Emil Nolde • Revisited

Mit der „Deutschstunde“ von Siegfried Lenz wurden unzähige Oberstufler gequält, bis heute gibt es zu diesem Roman kein Nachwort, der dieses Heiligenbildchen als Irrtum der Literaturgeschichte entlarvt*.

Für die Kunstgeschichte gibt es dagegen Hoffnung auf Aufklärung:

 

Die Draiflessen Collection hat den Konzeptkünstler Mischa Kuball eingeladen, sich mit dem Maler Emil Nolde (1867–1956) auseinanderzusetzen. Emil Nolde ist einer der bekanntesten Künstler der Klassischen Moderne. Dass er bekennender Nationalsozialist war, geriet für Jahrzehnte aus dem Blick – obwohl dies den Zeitgenossen und auch denjenigen klar war, die sich nach 1945 kritisch mit ihm beschäftigten. Seit längerem gelangte die politische Orientierung Noldes aber wieder in den Fokus. Das künstlerische Werk Emil Noldes hat sich nicht verändert, aber unser Blick darauf.

Nach welchen Kriterien beurteilen wir Kunst?

Wie prägt unser Wissen ihre Wahrnehmung?

Wer war (und ist) an ihren Deutungen beteiligt?

Mischa Kuball entwickelte für die Ausstellung EMIL NOLDE – A CRITICAL APPROACH BY MISCHA KUBALL künstlerische Arbeiten, die ein vielschichtiges, offenes, kritisches und zugleich ästhetisches Durchleuchten eines der ambivalentesten deutschen Künstler der letzten 100 Jahre umfassen. Kuball ist für die Aufgabe der Auseinandersetzung mit Noldes Werk und seiner Person durch seinen künstlerischen Ansatz und eine Reihe früherer Arbeiten besonders prädestiniert. Über das Medium Licht und Lichtbildverfahren wie Film und Fotografie verhandelt er gesellschaftspolitische Themen und Fragen der Wahrnehmung, indem er Zusammenhänge und Strukturen sichtbar werden lässt und die Aufmerksamkeit in neue Richtungen lenkt. So erlauben die neu entstandenen Videoinstallationen und Bildserien Kuballs für das Ausstellungsprojekt einen ungewohnten Blick auf das Œuvre Emil Noldes, denn sie zeigen oder reproduzieren keine Werke, sondern öffnen Assoziationsräume, die über das konkrete Beispiel Nolde hinausweisen. 

Ich glaube, dass wir uns da keinen Gefallen tun, indem wir sagen „Es sind tolle Bilder, aber der Typ war ideologisch verblendet“. Ich denke wenn Nolde Nazi war, dann tragen seine Bilder auch genau diesen Grundimpuls eines Menschenbildes, das Teile der Gesellschaft ausgrenzen wollte und Wegbereiter – ideologisch und auch künstlerisch – für das war, was dann eben mit den Nationalsozialismus eingetreten ist – Völkermord. Auch wenn die NS–Kulturideologen Nolde eben nicht als NS–konform akzeptiert haben, hat er sich nicht um Aufklärung seiner Haltung bemüht – er wählte den Weg in den Mythos.

Mischa Kuball

Die Nolde Stiftung Seebüll ermöglichte Mischa Kuball freien Zugang zu ihren Räumlichkeiten, um vor Ort neue künstlerische Arbeiten für diese Ausstellung zu entwickeln. Kuball rückt dabei drei Aspekte in den Fokus: Noldes Umgang mit fremden Kulturen, sein Engagement für die Nationalsozialisten und seine nach 1945 forcierte Stilisierung zu einem Künstler im Widerstand. Kuballs besonderes Interesse galt neben dem ehemaligen Wohn- und Atelierhaus den nicht öffentlichen Bereichen der Stiftung, dem Kunstdepot und Archiv, in denen Werke Noldes, seine Korrespondenz und seine zu Lebzeiten zusammengetragene Sammlung von Ethnografika bewahrt werden. Von zentraler Bedeutung für die Ausstellung sind außerdem die drei ersten Ausstellungen der documenta, auf denen Werke Noldes gezeigt wurden. Kuball wählte für sein Projekt ausschließlich Arbeiten aus, die in diesen drei Schauen zu sehen waren. Vor allem die erste documenta von 1955 wurde als Gegenentwurf zur Ausstellung Entartete Kunst von 1937 wahrgenommen. Sie war nicht das einzige Projekt, das am Mythos von Nolde als verfemtem Künstler Anteil hatte, aber in jedem Falle jenes, mit der bis in die heutige Zeit weitreichendsten Wirkung.

Ich wollte Nolde zeigen, ohne ihn wirken zu lassen. Ich wollte Nolde zeigen, ohne ihn richtig zu zeigen. Und das habe ich konsequent in der Ausstellung umgesetzt, übrigens auch im Katalog. Da ist alles in Schwarz–Weiss. Das heisst, Nolde wird praktisch heruntergebrochen auf seine Form und Figur, aber er kommt nicht zur farblichen Wirkmacht. Das ist einer der wesentlichen Züge meiner Intervention. 

Mischa Kuball

 

EMIL NOLDE – A CRITICAL APPROACH BY MISCHA KUBALL 11.10.2020–07.02.2021 | Draiflessen Collection | Georgstraße 18 | D-49497 Mettingen

© Archiv Mischa Kuball, Düsseldorf

Die Ausstellung wird durch ein umfangreiches Rahmenprogramm aus Gesprächen mit dem Künstler Mischa Kuball, Führungen durch die Kuratorinnen Barbara Segelken und Nicole Roth, Themenführungen,  einer Exkursion und museumspädagogischen Angeboten für unterschiedliche Zielgruppen erweitert – auch der Studierendentag findet als Tagung im Rahmen dieser Ausstellung statt.

 * Anders als die Romanfigur von Lenz war Nolde, trotz der Beschlagnahmung und Weggeschobenheit seiner Kunst im Dritten Reich, bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs überzeugter Nationalsozialist, Antisemit und Bewunderer Adolf Hitlers. Bei einem Auftritt im Deutschen Literaturarchiv (Marbach, 2014), bezeichnete Lenz den Maler als problematischen Menschen, der sich in politischer Hinsicht „ein bisschen katastrophal“ verhalten habe. Zwar ließe sich darüber nachträglich nicht Gericht halten, aber er werfe Nolde vor, sich für seine Kollaboration mit den Nationalsozialisten auch nach dem Krieg nie entschuldigt zu haben. Seitdem ist es an der Zeit, die „Deutschstunde“ von den Lehrplänen der Deutsch-Unterrichts zu streichen.

 

 

Mischa Kuball. Photo: Daniel Biskup, Wittenberg

Weiterführend →

Stefan Oehm betrachtete für KUNO Mischa Kuballs Lichtinstallation res·o·nant. Lesen Sie im Rahmen der public preposition ein Gespräch zwischen Vanessa Joan Müller und Mischa Kuball über öffentliche Beziehungen. Gleichfalls empfehlenswert das Ateliergespräch von Prof. Dr. Matei Chihaia mit Mischa Kuball.

Für das Projekt Kollegengespräche hat A.J. Weigoni einen Austausch zwischen Schriftstellern angeregt. Auf KUNO ist diese Reihe wieder aufgelebt. Mit dem Künstler Mischa Kuball teilt der Romancier den Dauerlauf.