herkunft und fernweh

ramona metzing aus klötze, die dort, ursprünglich bibliothekarin, eine buchhandlung führt, schreibt in ihrem gedichtband über ihren heimatort in der westlichen altmark, die stätte des regelmäßigen aufstehens und stetigen beginnens, die heimische landschaft sowie die erweiterung ihres horizonts darüber hinaus. der band folgt einer chronologischen logik, da er mit gedichten beginnt, die regionale, soziale und familiäre herkünfte beschreiben, und weiter hinten reisegedichte stehen. die heimat wird überwiegend als vergangen und gegenwärtig geschildert, während die ferne mehr mit erwartung und sehnsucht verbunden ist.

die autorin erinnert an personen der eigenen kindheit, die ihr wichtig waren und im gedächtnis bewahrt blieben. in den gedichten »Da war ich zwölf und Antonia 82« und »Lene« erscheint der mond als todesundauferstehungssymbol: »Bis Tonis Buch sich schloss wie die Tür / Zwischen Schornstein und Dach nah dem Mond« und »Wahrscheinlich schwebt sie jede Mondnacht / Als Heilige zu ihrem Mann / Die Arme auseinanderreißend holt sie Luft / Fliegt weil sie Flügel hat / Wie am Tag ihrer Hochzeit«. das deutet seelenreisen an.

der mond, der zeitmesser, symbolisiert, weil er abundzunimmt, den zyklus zwischen leben und tod. in europa gehörten mondsymbole zum grabschmuck. osiris als mondgott war ägyptisch herrscher der totenwelt. in indianischen kulturen leben totengeister auf dem mond. ein mondflug findet sich bereits bei lukian, dem griechisch schreibenden satiriker syrischer herkunft, im 2. jahrhundert. dort werden reisende mit ihrem schiff von einem wirbelsturm zum mond geweht. das läßt ans wort raumschiff denken. edgar allan poe beschrieb einen ballonflug zum mond.

das kontrastbild zum totenmond ist der honigmond als lebensmond. der gelbe mond der liebenden am beginn ihrer lebensreise, honeymoon für flitterwochen, also die hochzeitsreise, soll an den germanischen brauch anknüpfen, 30 tage nach der hochzeit mit honig versetzten met zu trinken, und andererseits, von den mondphasen ausgehend, auf wechselnde zuneigungen unter verliebten hinweisen. den deutschen romantikern symbolisierte der mond, den sie still, mild, sanft und rein nannten, trost, zuflucht und wendung nach innen. auch hölderlin sprach vom friedlichen mond. bei jean paul werden dem mond beruhigende magische kräfte zugeschrieben. expressionistischen dichtern hingegen war der mond, auch jener über schlachtfeldern, symbol für kälte, bedrohung, verwundung, verfall und tod.

die präzision der gedichte von ramona metzing hat mitunter etwas entsagendes. vieles darin wird mit einem wissenden nüchternen blick wahrgenommen. die klare und einfache sprache, der sachliche tonfall und das knappe benennen wirken norddeutsch und asketisch. diese merkmale könnten durch zwänge des alltags bedingt sein, die das leben, zumal in einer kleinstadt, beschränken, zugleich jedoch durch ängste, von überbordenden phantasien und deren unberechenbaren energien, die einen kreativen menschen aus enge und konformität ausbrechen lassen, hinweggerissen zu werden. in diesem spannungsfeld lebt und schreibt sie.

beengung macht sensibel für elementares. »Unser Weg«: »Der Weg auf hundert Fuß bemessen / Trug taubedeckte Blätter am Morgen / Der Wind flocht uns bunte Zöpfe ins Haar // Die Freundin schminkte den Weg mehr als sich / Mit tanzenden Seifenblasen aus Fantasien / Die fielen lautlos ins tiefe Gras // Nun blickt sie aus dem fünfgeschossigen Block / Der unsern Weg durchkreuzt und weint und lacht / Und spielt mit ihrem Kind«. das ist die fatalität, wenn nicht gar pathologie, der normalität, um einen buchtitel von erich fromm aufzurufen. in einigen gedichten, die alltagswelten beschreiben, spricht die autorin, obwohl die lyrik die ich-form der literatur ist, in der dritten person über sich, was distanz schafft und offenbart. damit wären wichtige kontraste und übergänge, von denen ihre gedichte sprechen, benannt: liebe, normalität, tod.

der leser kann orte und motive der altmark entdecken, die dünn besiedelt ist, während in der arktis eisblöcke von der größe der altmark abbrechen. in einem gedicht erscheint der kreidefelsen von rügen, wo einst der tempel des slawischen kriegsundfruchtbarkeitsgottes svantevit stand, ehe er in die ostsee stürzte. offenbar benötigt jeder landstrich seine identitätsbilder. die östliche altmark hat otto von bismarck, die westliche das grüne band, den naturbelassenen streifen entlang der früheren grenze, der jüngst auf einer briefmarke erschien.

ramona metzing kennt einschränkungen des lebens und verengungen des horizonts von kindheit an. da mußte sie sich eigene welten schaffen, um kreativ zu sein. »Ist der Horizont endlos / Bleibt ungewiss / Wo ich Brot teile«, heißts in »Grenzland«, was auch die unübersichtlichkeit der welt andeutet. endlose horizonte können ebenfalls beschränkt sein. in »Varieté« schreibt sie: »Ich sitze angespannt im verrückten Karussell«, wo kinder auf tieren reiten, die einst für sie gefährlich waren.

einige gedichte beschreiben momente, in denen das gleichförmige des alltags durchbrochen und überwunden wird, wie in »Seiltänzer«: »Ich bin der Seiltänzer / Der manchmal balanciert // Über den Wolken als Clown / Der stolpert zurück // Und nach vorn der federt / Nach rechts nach links // Und findet sein Seil / Immer wieder hoffentlich«. bei birgitt lieberwirth aus magdeburg gibt es ein ähnliches seiltänzer-gedicht, »Triptychon  2«, »Balance«: »Ich bin aber allein / Auf dem Seil, niemand nimmt mir die Last / Meines Körpers, setzt mir den Fuß vorsichtig / Auf, keiner trägt mir den Kopf fort, den Gedanken / Aus der Stirn, die Augen fallen mir, hundertmal / Komme ich auf, in meinem Traum / Brech ich das Rückgrat, ohne Netz / Splittert der Schrei neben den Beifall, wenn ich stürz / Stürz ich«. beide gedichte, die frühe grunderfahrungen schildern, vermitteln das gefühl, daß auf wankendem grund geht, wer etwas mit wagemut riskiert.

auch musik ist ramona metzing zur inneren befreiung geworden, insbesondere jazz und blues mit ihrer emotionalität und improvisation. »Mein Bruder der Jazz / Für Conny Bauer«, den free-jazz-posaunisten: »Wenn Noten auf dem Feldweg / Ihrer Slalom-Freiheit / Stürzen / Fällt der Schrei der Posaune / Nicht ganz Boden / Ist er mein / Bricht auf die Stille / Lauf ich wie auf federnden Dielen / Und fühle mich / Geborgen dabei«. indem aus dem wanken ein federn und tanzen wird, entsteht intensive leichtigkeit, in kleinem rahmen freilich, aber nachhaltig. »Eine singende Stimme vermag die Emotionen der zuhörenden Person zu entfachen, die Person im Ganzen anzuheben, sie zu Aufbrüchen, Höhepunkten oder in Tiefen mitzunehmen, ihr ein Gefühl zu vermitteln, das sich wie eine innere Umarmung anfühlt.«, schrieb die schweizer autorin joanna lisiak, die auch jazzsängerin ist.

die rückgriffe auf andere lyriker sind ebenfalls horizonterweiterungen. im gedicht »Umarmung / Eine eigene Sprache spricht / Wer sich verwandelt«, das mich an federico garcía lorca erinnert, findet der leser eine kräftige südliche metaphorik. die zeilen »Wandelbar sind wir / Die Frau ist eine tagwandelnde Orange / Der Mann ein nachtwandelndes Gedicht« werden wiederholt. wer sich nicht verwandelt, entwickelt sich nicht. ein anderes gedicht nimmt auf anna achmatowa und ihre lebenssituation bezug. die sieben aquarelle im buch, die von der autorin selbst stammen, »Katze im blauen Klee«, »Seiltänzerin«, »Novembertag«, »Aquarell«, »Nahe Poel«, »Mit einer exotischen Muschel am Ohr« und »Katzenwelt«, greifen motive der gedichte auf.

der buchtitel, »Far away« = weit entfernt, fernab, entlegen, zugleich der kapiteltitel der reisegedichte, die vom fern erlebten berichten, kann zunächst, aus heimatlicher perspektive, meinen: den zentren fern. zugleich verbindet far away herkunft und reisen, indem es ein fernweh assoziiert, das auch an ein anderswo oder nirgendwo denken läßt, also an eine utopische welt. das  wort fernweh, das gegenteil von heimweh, soll auf hermann von pückler-muskau zurückgehn, dem landschaftsarchitekten, weltreisenden, reiseschriftsteller und schillernden lebensoriginal der zeit der romantik. das ältere wort war wanderlust. in vielen sprachen gibt es kein genau entsprechendes wort für fernweh. englisch heißt fernweh wanderlust, hier übernahm man das deutsche wort, und travel lust, französisch nostalgie du voyage, reisesehnsucht, sozusagen das verlangen nach dem fremden, unbekannten. weh, verwandt mit weinen, bezeichnet seelische schmerzen und leiden und bedeutet eigentlich weh schreien, ist also lautnachahmend.

die reisegedichte erzählen von aufenthalten in frankreich, marokko, brasilien, japan und neuseeland. über einen trödelmarkt in tokio heißt es: »Der abgetragene Anzug / Hätte meinem Vater gesessen.«. hier erinnert ein anblick in der ferne an die herkunft. nicht zufällig ähneln reisen träumen, die oft auf die kindheit, die zeit der verheißung eines menschen, zurückgehn. reisen wie träume durchbrechen und entgrenzen zeiten und räume. in einigen gedichten ist ramona metzing gerade in der fremde ganz bei sich, wie in »Kasbah bei Marrakesch«: »An der weißen Mauer stehe ich / Ohne Glas ohne Dach auf einer halben Insel / Und lausche der ruhenden Stadt / Dem Hundegebell dem perlenden Meer // Mit einer exotischen Muschel am Ohr // Entrinne ich meinen Grenzen / Draußen reiten Paare auf weißen Wellen / Knaben jonglieren den Ball«. gustave flaubert schrieb ein buch »Reise in den Orient«, nachdem er durch ägypten, den sudan, palästina, syrien und den libanon gereist war. paul klee malte und zeichnete in ägypten und tunesien.

frauen sind pflanzen, und insbesondere blumen und blüten, besonders wichtig, die als symbole für liebe, schönheit, wachstum, geburt und auferstehung gelten. und so kommen auch bei ramona metzing blumen vor, im band »Malerei trifft Lyrik« von 2017 noch deutlich mehr. in »Kirschbaum am Kartag« erscheint die kirsche als symbol der ungezähmten liebe. »Kirschen brechen« meint verbotenen liebesgenuß. hieronymus bosch hat die erotik der kirsche dargestellt. in der christlichen ikonographie ist der kirschbaum baum des biblischen sündenfalls. im volksglauben verhießen in der vorweihnachtszeit geschnittene und dann aufblühende kirschzweige, die lebensrute und glückssymbol waren, baldige hochzeit.

öfter findet sich lila als farbe, meist vom flieder ausgehend, so im gedicht »Im Fliederwind«, hier mit der intensität von jazz und blues verbunden. lila bedeutet fliederfarben. in den siebziger jahren des 20. jahrhunderts wurden lila und violett, die schon zuvor mit weiblichen bedeutungen verbunden waren, zur farbe der emanzipation und frauenbewegung. violett, französisch violette heißt veilchen, ist eine ambivalente farbe zwischen lebensenergien und todesnähe, individualität und einsamkeit, kreativität und melancholie. auch lila und flieder, violett und veilchen lassen die sehnsucht nach unbeengter lebendigkeit, und zugleich deren gefährdung, aufscheinen, die sich wie ein roter, oder violetter, faden durch das buch ziehen.

 

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Far away / Gedichte von Ramona Metzing. BoD ‒ Books on Demand, Norderstedt, 2020

Weiterfühend → 

Ein Hinweis auf den Band Malerei trifft Lyrik, Künstlerinnen der Altmark von Ramona Metzing.

Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.