Wind und Wolken

 

Der Wind geht, dreht und wendet die Blätter, bewegt die Äste und Zweige und lässt alles rauschen. Er sitzt am Schreibtisch, schaut nach draußen und ist völlig gebannt vom steten farblichen Wandel der Bäume im Garten. Grün, bläulich, silbern, gelb, sogar einige Rottöne kann er ausmachen. Nur die Baumstämme sind niemals braun, sondern tragen alle Farben auf sich, von Reihergrau bis Flechtengelb. Da tun sich plötzlich Lücken auf und lassen in die Nachbargärten schauen, nur um sich Momente später wieder zu schließen. Seine Nase ist verstopft, das passiert ihm in letzter Zeit häufiger, gleich wird sie beginnen zu laufen. Er holt sich ein Küchenpapiertuch und schnütet. (Wahrscheinlich ist das Wort „schnüten“ des Sauerlandes Lokalkolorit, vermutet er.). Die Augen beginnen zu tränen. Wieder steht er auf, öffnet die Schiebetür zum Garten und lässt sich den Wind um die Nase wehen, wie man so schön sagt. In diesem Fall durchaus wörtlich gemeint. Er spürt den Wind auf der Haut und fröstelt. Nein, warm ist es beileibe nicht. In allen Ecken kann man noch sehen, dass es nachts wohl wieder geregnet hat. Auch wenn er gerne blauen Himmel hat, er weiß doch, dass es momentan wohl besser ist, wenn es ausdauernd regnet. Er macht seinen täglichen Gartenspaziergang, bleibt hier und dort stehen, betrachtet, wundert sich wieder einmal, dass die Schnecken so aktiv sind. So eine Fülle von Leben aus Haut, Muskeln und Innereien. Ja, er freut sich sogar daran. Auch die Pflanzen haben über Nacht alle Energie darein gelegt zu wachsen. Als wollten sie Herrn Nipps Theorie auf Deibel komm raus bestätigen, dass ein Garten dieser Größe jeden Tag mindestens 10 Kilogramm Biomasse produziert, ob bewirtschaftet oder nicht. Tatsächlich muss er jeden Tag durchschnittlich eine solche Menge entfernen, um überhaupt noch eine Chance zu haben, seine Runden zu drehen. Da rümpfen verschiedene Menschen  ob dieser unerträglichen Unordnung schon einmal die Nase. Aber dieses Thema ist hier schon oft genug besprochen worden. Wir wissen doch inzwischen, warum er diesen Garten jedem Feinschliffhort mit Beton und englischem Rasen bevorzugt. Besser hätte Herr Nipp einen Pullover angezogen, wieder treibt der Wind Schauer über den gesamten Körper. Die Haare auf den Armen stehen senkrecht. Da durchbricht für wenige Sekunden die Sonne die ansonsten geschlossene Wolkendecke, für einen Moment ebbt der Wind ab und schon spürt er, welche Kraft sie hätte, wären die Wolken nicht. Er muss lächeln. Ein Glück, denkt er, dass die Wolken und der Wind da sind. Diese Wärme könnte er jetzt nicht ertragen.

 

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Eine Vorschau auf: Guppy im Gin, weitere Geschichten von Herrn Nipp. Edition Das Labor 2020

Weiterführend → Zu einem begehrten Sammlerstück hat sich die Totholzausgabe von Herrn Nipps Die Angst perfekter Schwiegersöhne entwickelt. Außerdem belegt sein Taschenbuch Unerhörte Möglichkeiten, daß man keinen Falken mehr verzehren muss, um novellistisch tätig zu sein. Herr Nipp dampft die Gattung der Novelle konsequent zu Twitteratur ein. Und außerdem präsentiert Haimo Hieronymus die bibliophile Kostbarkeit Über Heblichkeiten, Floskeln und andere Ausrutscher aus den Notizbüchern des Herrn Nipp. Begleitendes zur Veröffentlichung des Buches Fatale Wirkungen, von Herrn Nipp (Mit Fotos von Stephanie Neuhaus). Über die historische Aufgabe von Herrn Nipp aus Möppelheim.

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus.

Diese bibliophile Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421