Gruftgesänge

 

David Bowie hat sich auf seinem letzten Album Blackstar explizit mit seinem Sterben auseinandersetzt. Was ist von Bob Dylans neuem Album zu erwarten?

Haben eigentlich Popstars nicht wie jeder andere Mensch auch ein Recht auf Rente? Kommt nicht einmal die Zeit, da aus den immer wieder apostrophierten „Altmeistern“ einfach nur alte Männer geworden sind? Haben ihre kreative Visionen nicht auch ein Verfallsdatum? KUNO darf das fragen, denn erstens ist dies eine ganz normale Frage, und zweitens beantwortet die Realität dessen, was die Altmeister den Medien anbieten, die Frage selbst aufs deutlichste. Viele Kollegen haben bei Bob Dylans kürzlich veröffentlichtem 17-Minuten-Epos Murder Most Foul eher abgewunken: Monoton wiederholte Melodien und eine Auflistung aller möglichen Referenzpunkte der amerikanischen Geschichte und Populärkultur seit der Ermordung Kennedys sind nicht jedermanns Sache. Mit der „Last von 60 Karrierejahren“ singt Dylan von der Ermordung Kennedys, erzählt Daniel Gerhardt auf ZeitOnline. Schon heißt es, Dylan besinge hier das Ende Amerikas inmitten der Pandemie, auch wenn das Stück wahrscheinlich vor Jahren aufgenommen wurde. „Die Unmittelbarkeit seines Vortrags und die Zeiten des Ausnahmezustands, in die hinein er das Stück veröffentlicht, könnten den womöglich letzten großen Moment des Popgroßkünstlers markieren. Natürlich kann man ‚Murder Most Foul‘ mit einen Textmarker in der Hand und amerikanischem Geschichtsbuch auf dem Schoß hören, seine Zeilen und Verweise quasi-wissenschaftlich abarbeiten, wie es die selbsternannten Dylanologen in den kommenden Wochen sicherlich tun werden. Ebenso vielversprechend erscheint in diesen Tagen jedoch der direkte Zugang: hören und dann mal schauen, wohin das Lied einen weht.“ Leider kommt Bob Dylan mit „Murder Most Foul“ nicht einmal ansatzweise an das große Vorbild Howl von Allen Ginsberg heran.

Er schreibt nun einmal keine Literatur.

Greil Marcus

Der New York Times hat „His Bobness“ eines seiner raren, aber umso epischeren Interviews gegeben. Unter anderem geht es um seine große Abrechnung „Murder Most Foul“, eines der jüngeren Lebenszeichen des Nobelpreisträgers: „Ich denke über das Ende der Menschheit nach. Die lange, sonderbare Reise des nackten Affen. Ohne es zu leicht nehmen zu wollen, aber jedes Leben ist so flüchtig. Jedes menschliche Wesen, egal, wie stark oder mächtig, ist zerbrechlich, wenn es um den Tod geht. Ich denke da ganz allgemein, nicht persönlich darüber nach. … Heutzutage gibt es definitiv mehr Anspannung und Nervosität als früher. Aber das betrifft nur Leute eines gewissen Alters, Leute wie uns beide. Unsereins neigt dazu, in der Vergangenheit zu leben. Aber das sind nur wir. Die jungen Leute haben diese Neigung nicht. Sie haben keine Geschichte. Alles, was sie kennen, ist, was sie sehen und hören und sie glauben alles mögliche. In 20 oder 30 Jahren werden sie an der Spitze stehen. Wenn du heute jemanden siehst, der zehn Jahre alt ist, dann wird der in 20 oder 30 Jahren die Kontrolle haben und keine Ahnung von der Welt, die wir noch kannten.“

Seine ergrauten Fanboys in Deutschland sind völlig aus dem Häuschen, weil sich „His Bobness“ mal wieder aus dem Pleistozän der Popkultur meldet:

Bob Dylan mag nächstes Jahr 80 werden, aber auf „Rough and Roudy Ways“, seinem neuen Album, das diesen Freitag erscheint, zeigt er sich jung, also wieder als „ganz der alte“, schwärmt Willi Winkler in der SZ: Keine Sinatra-Coverversionen, keine Nobelpreisdebatten mehr, einfach nur neue Musik mit schlechter Laune beim Blick auf den Zustand der Welt. Und Rückschau ist angesagt: „Staunend geht Dylan wie in einem Museum herum und erkennt sich überall selber: den Protestierer, der mit Martin Luther King nach Washington marschierte, den Frauenverbraucher, den Gottsucher und Jesus-Finder, den C.G. Jung-Adepten und den Lubawitscher, den Reaktionär und den Revolutionär, den unerschöpflichen Bildererfinder und den desillusionierten Entertainer, der in der Bar der unreinen Vernunft endlich auch den letzten Gast hinausgesungen hat und allein seiner Stimme lauscht, krächzend wie je und rührend, wenn sie mit Trippelhüpfern den nächsthöheren Ton erreichen will.“

„Rough and Rowdy Ways“, wird von Jan Wiele für die FAZ vorab besprochen. Der Titel legt nahe, dass Dylan final den Cowboy in sich entdeckt hat, und vielleicht hat dieses Album, „das, vorweg gesagt, großartig ist, sogar gewisse parodistische Züge. Aber im Großen und Ganzen scheint es Dylan sehr ernst zu sein mit der elegischen Rückschau“, die sich musikalisch entsprechend vielfältig präsentiert: Ist Dylan also gar der „Harold Bloom der Popmusik?“

In der Berliner Zeitung würdigt Harry Nutt Dylan, der hier mal wieder Dutzende Referenzbälle gleichzeitig in der Luft hält, als „Meister des subtilen Verbergens selbst dort, wo es ihm darum geht, anderen Anerkennung zu zollen.“ Dass Dylan dann aber eben doch nicht mehr der Jüngste ist, zeigt sich ihm allerdings schon auch: „Es kratzt und schmirgelt in der Stimme“, doch „in den meisten der insgesamt zehn Stücke scheint Dylans ramponiertes Gesangsorgan die Ohren der Zuhörer streicheln zu wollen.“

Der harte Kern der pensionierten Fanboys kann sich unter der sachkundigen Anleitung von Heinrich Detering nun Monate lang damit beschäftigen, die verschwurbelten Texte zu entschlüssen, man braucht nur einen Doktortitel in Dylanologie, um die Alterpubertät von „His Bobness“ zu genießen. Vielleicht werden aus alten weißen Männern zu Weihnachten alte weise Männer?

Dylan könnte gut ohne den Nobelpreis für Literatur weiterleben und -arbeiten. Er ist auch kein genuiner Kandidat, insofern er halt kein ‚richtiger‘ Schriftsteller ist, sondern ein Singer-Songwriter.

Heinrich Detering

„Was wäre geschehen, wenn Bob Dylan nicht im 20. Jahrhundertgelebt hätte, sondern im Italien der Renaissance?“ fragte sich Torsten van de Sand. Robertos endlose Reise erzählt die Geschichte des Sängers Roberto di Lane, der 1478 wie aus dem Nichts in Florenz ­auftaucht und aufgrund seiner kraftvollen, originellen Lieder schnell bekannt wird. Er begegnet den Großen der Renais­sance und befreundet sich mit Botticelli, Michelangelo und Leonardo da Vinci. Er findet den Ruhm, den er sich ersehnt, und droht daran zu scheitern. Auf seinen Reisen ist er stets in Gefahr, ein Spielball politi­scher Machtkämpfe zu werden. Angetrieben von seinem ­kreativen Genius und der Suche nach Grenzerweiterungen, findet er einen Weg, ­seine Kunst zu leben. Diese führt ihn kreuz und quer durch Italien. Vor dem Hintergrund einer Zeit des Wandels entfaltet sich ein Renaissance-Roadmovie.

Es gibt inzwischen eine ganze Generation, die ohne Bob Dylan auszukommt und sich angewöhnt hat, auf diese Form der Gesinnungsästhetik und den politischem Erhabenheitskitsch verzichten kann. Das ist der Nachteil des Alters: Er entdeckt, daß die Welt sehr gut ohne einen auskommt. Widmen wir uns angelegentlich lieber der kleinen Form, dem Schreiben und Lesen im Netz und der Dylan-Dekonstruktion durch Jan Kuhlbrodt, keine Weltliteratur, dafür jedoch sehr welthaltig. Mehr kann man von Pop nicht wollen und wahrscheinlich hat Pop auch nie mehr gewollt.

 

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Rough and Rowdy Ways, von Bob Dylan. Sony Music

Robertos endlose Reise von Torsten van de Sand, Killroy Media, 2018

Über die kleine Form. Schreiben und Lesen im Netz von Jan Kuhlbrodt, 2017

Als der Nobelpreis für Bob Dylan verkündet wurde, teilten sich die Geister in Enthusiasten und Enttäuschte: ein gefundenes Fressen für alle diejenigen, die online ihre literarischen Meinungen kundtun, verteidigen und weiterentwickeln. Jan Kuhlbrodt stellt Dylans Songtexte in eine Linie mit dem heutigen Schreiben (und Lesen) kleiner Formen. Er reflektiert die Tagebuchliteratur der Digital Natives. In Zeiten nachlassender Aufmerksamkeitsspannen sind die sogenannten Sozialen Medien und diese kurze Form des Erzählens sicher gute Mittel um gehört zu werden, wenn man etwas zu sagen hat. Davon mag man halten, was man möchte, aber Kuhlbrodt hat viel zu sagen. Seine Gedanken, die er teilweise wie einen Bewußtseinsstrom präsentiert, sind pointiert, sozialkritisch und ironisch gebrochen.

Weiterführend → ein Essay über die neue Literaturgattung Twitteratur.

Twitteratur, eine Anthologie. Erweiterte Taschenbuchausgabe mit der Dokumentation des Hungertuchpreises. Herausgegeben von Matthias Hagedorn, Edition Das Labor 2019.