Karl Kraus liest

Der zwanzigjährigen ›Fackel‹

Du hast zwanzig Jahr ins Land gestrahlt.

Du hast manchen Schatten an die Wand gemalt –

Rauchlos helle Flamme!

Und wir sprachen zu den feinen Röcken,

und wir sprachen zu den kleinen Smöcken:

»Daß dich Kraus verdamme!«

Gott sei Dank hast du noch nicht geendet!

Mancher schrie, von deinem Licht geblendet,

manches Equipagenpferd ward scheu.

Viele kippelten im bloßen Gleiten.

Du hingegen – auch in großen Zeiten –

bliebst dir selber treu.

 

Dienstag abend las im Klindworth-Scharwenka-Saal Karl Kraus aus seinen Schriften.

Und aus diesen schrecklichen, unerbittlich grausamen Schriften stieg jener Klang auf, der entsteht, wenn ein blutiges Kreuz mit der Welt zusammenstößt – aus jeder Zeile ruft: »Wie weit habt ihr euch von Güte und Liebe entfernt!« – Er las Szenen aus den ›Letzten Tagen der Menschheit‹, einem zyklopischen, unaufführbaren Drama – unaufführbar deshalb, weil der Reichtum, unbekümmert um dramatische Gesetze, über die Ränder der Form quillt. Darin ist Krauswie Rabelais: unbekümmert um die Wirkung. Man könnte getrost dies und das streichen – aus dem Gestrichenen machte ein anderer ein neues Stück.

Aber was will das alles gegen Form und Inhalt besagen! Form: letzte Schleifung des Wortes, dem jener der treueste Diener ist – die Sprache verrät sich in ihren Bildern selbst, sie enthüllt den Sprechenden und enthüllt eine Epoche, die, unfähig sich neue Formen zu bilden, ihre Embleme aus einer vergangenen Zeit nimmt, ohne ahnen zu lassen, daß sie nicht mehr passen. (»Der Staat zog das Schwert.« Kein Wort wahr: die Büros schrieben eine neue Steuer aus.) Form: Durchblutung des Wortes, feinstes Gefühl für die Nuance, für den Dialekt, für die kleinen Sprachbequemlichkeiten, die sich der oder jener erlaubt. Der norddeutsche Dialekt ist manchmal nur mit einem Wort angedeutet – und der ganze Kerl steht vor einem.

Inhalt. Diese Dinge sind zum allergrößten Teil in den Kriegsjahren geschrieben worden. Dieser infernalische Haß gegen eine große Zeit, diese unbedingte Ablehnung, durch nichts zu erschütternde Ablehnung des Blutvergießens ist damals eine Tat gewesen. Heute schreibt dergleichen die halbe Schweiz und ein Zehntel Deutschlands, und das will nicht viel besagen. Aber damals, als die Wellen der vaterländischen Begeisterung allzuhoch gingen – damals dergleichen gewagt und gesagt zu haben: das will etwas bedeuten. Und er hats gewagt.

Das Wort »Du sollst nicht töten« prallt mit dem andern vom »Gehorsam gegen die Obrigkeit« zusammen – und das große Wort gewinnt Macht über das kleine utilitaristische. Du sollst nicht töten . . . ! Und ein so konstruiertes Auge sah sich nun die große Zeit an und zeichnete ihre schrecklichsten Bilder.

Was hier gestaltet ist, mag sich oft erst nach der Gestaltung ereignet haben. Und was sich nicht ereignet hat, das hat nur vergessen, sich zu ereignen – so grauenhaft echt ist das alles. Die großen Worte fallen ab, und es bleibt eine ungeheure Kulturschande, die durch nichts zu entschuldigen ist.

Der Vorleser Kraus ist einer der stärksten Eindrücke. Er sieht fast niemals auf, er liest richtig vor – nur manchmal beschreiben diese seltsamen schmalen Finger einen Halbkreis oder sie zeichnen eine Geste übertrieben auf . . . nur die Stimme herrscht. Nein: der Wille herrscht. Seine Stirnader schwillt. Mit ungeheurer Intensität bricht das Geschriebene und Erlebte noch einmal heraus – eine Eruption seltenen Grades. Er darf es wagen, entgegen allen Vortragsgesetzen, fortissimo zu beginnen und andante fortzufahren – weil es wahr ist, in jedem Augenblick wahr. Schrei auf Schrei entringt sich dieser gequälten Brust, Ruf auf Ruf, Klage auf Klage. Und Anklage auf Anklage . . .

»Ich habe sie in Schatten geformt«, heißt es einmal. Das hat er. Wie Schemen, aber erschrecklich lebendig, tanzen diese bunten Burschen noch einmal vorbei, wie Schemen kichert das und posaunt und telegrafiert und hält Reden auf einem Bankett – seltsam tot und seltsam lebendig. Es gibt ja schließlich bei diesen Dingen nur ein Kriterium: die Gänsehaut. Und hier ist Pathos, das keinen rationalistischen Witz verträgt, der glatt und matt herunterfallen würde.

Du sollst nicht töten . . . ! Das ist eine harte Forderung, eine unbequeme Forderung, eine unrationalistische Forderung. Er vertritt sie, er schreit sie hinaus, er pocht mit ehernem gekrümmten Knöchel an die Tür des Todes, die mit den Landesfarben angemalt ist. Und es klingt hohl . . .

Dies ist keine Parteiangelegenheit und keine Landesfrage. Hier ruft ein Mensch und gibt euch alles in allem: Kunst, Gesinnung, Politik und sein rotes, reines Herzblut.

 

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Quelle: Berliner Tageblatt, 22.01.1920, Nr. 39.

Kurt Tucholsky zählt zu den bedeutendsten Publizisten der Weimarer Republik. Als politisch engagierter Journalist und zeitweiliger Mitherausgeber der Wochenzeitschrift Die Weltbühne erwies er sich als Gesellschaftskritiker in der Tradition Heinrich Heines. Zugleich war er Satiriker, Kabarettautor, Liedtexter, Romanautor, Lyriker und Kritiker (Literatur, Film, Musik). Er verstand sich selbst als linker Demokrat und warnte vor der Erstarkung der politischen Rechten – vor allem in Politik, Militär und Justiz – und vor der Bedrohung durch den Nationalsozialismus. „Der niemals zu unterdrückende Drang, die Wahrheit zu sagen“, ist Tucholskys Motiv, und als er erleben muss, dass in Deutschland die Republik versinkt und ein umjubelter Diktator mit ausgestrecktem Arm an die Macht kommt, verstummt die mahnende Stimme Tucholskys im schwedischen Exil: „Man kann nicht schreiben, wo man nur noch verachtet.“