EX ORIENTE LUX

Gedanken zu Thomas Manns Roman „Joseph und seine Brüder“- Ein immer noch aktuelles Manifest für Mündigkeit, Vernunft und Freiheit

Ein großer Roman! Schon der Umfang verrät es – vier Romane in einem: Die Geschichten Jaakobs / Der junge Joseph / Joseph in Ägypten / Joseph, der Ernährer – alles in allem rund 1800 Seiten. Golo Mann berichtete, sein Vater habe mit den Joseph-Romanen ein Werk erschaffen wollen, das der Ilias Homers gleichkomme. Mitgemeint war wohl auch, dass Thomas Mann – zwar in den Bildern der alttestamentlichen Geschichten, aber in geistigen und psychologischen Kategorien der Moderne – die gültigen Mythen des Lebens erzählerisch darstellen wollte.

Bevor der Erzähler die faschistischen Auswüchse in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verurteilt – indem er theokratische und andere Machtusurpationen in der altägyptischen Geschichte schildert, die an die heutige Wiederkehr solcher offenbar mythischen Phänomene in neuen Gewändern erinnern –, erzählt er in einem Vorspiel mit dem Titel Höllenfahrt von der Tiefe des Brunnens der Seins-Geschichte: von der Entstehung der Erde, der Erschaffung des Menschen als Ebenbild und Bündnispartner Gottes, von der Notwendigkeit des Bösen und der Geburt der Sünde; er erzählt vom Paradies, von Noah, Lot, Abraham und Isaak … Das Bild des Brunnens ist doppelt und dreifach: Die Geschichte schlummert dort in der Tiefe, sie ist das Wasser des Seins, aus dem sich Gegenwart und Zukunft schöpfen – und nicht nur ein einzelner Mensch kann in den Brunnen fallen, sondern auch die Geschichte selbst, wie es sich vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigte, und sie kann vielleicht geläutert auferstehen wie Joseph, der zwei Mal in den Brunnen fiel.

Die biblische Geschichte wird psychologisch grandios tapeziert und möbliert. Hinzu kommen theologische Anspielungen und Reflexionen, etwa im Hinblick auf das abrahamsche Opfer Isaaks – und Jaakob fragt sich: hätte er wie sein Vater gehandelt – ? Hintergründig auch die hinterlistige, mörderische Rache der Lea-Söhne Jaakobs an der Vergewaltigung der einzigen Tochter Dina durch Sichem, bei dessen Stadt sich das kleine ‚Volk’ Israel mit vier Dutzend kriegsfähigen Männern angesiedelt hatte. Sichem erhält Dina zur Frau, wenn alle Männer der Stadt Sichem beschnitten werden. Die Bedingung wird erfüllt. Jaakobs Stamm ist klar, dass Sichems Herrscher das nur tut, um Dina ohne Streit zu bekommen. Am dritten Tag nach der Beschneidung überfallen die Söhne Schimeon und Levi die vom Wundfieber geschwächten Männer Sichems und töten sie. Thomas Mann reflektiert theologische Folgerungen nicht immer explizit, und doch wird klar, wie pragmatisch Selbstbehauptung sein muss, um als Minderheit zu überleben in einem komplexen Geflecht von Ansiedelung, partieller Integration und allmählicher Landübernahme. Im Falle Jaakobs aber geht es erst einmal um den Abzug aus Kanaan, das von der ägyptischen Besatzungsmacht kontrolliert wurde. Die Ereignisse liegen in einer langen Kette von Überlebenswundern, die letztlich auch für die Geburt des Christentums ausschlaggebend ist.

Das Isaak-Opfer wird erhöht im Vergleich mit der ‚Karikatur’ eines irrsinnigen Menschenopfers. Laban, Jaakobs Herr, opfert – um das Wohlwollen seiner Götter zu gewinnen – seinen ersten und einzigen Sohn, als er sein Haus erbaute. Seine Töchter gebären Jaakobs Stamm. Das Motiv der wundersamen Geburt und Fortpflanzung des Volkes Israel setzt sich fort in einem Echo Sarahs: in Rahels später und schwerer Geburt Josephs, den Jaakob seinen echten Sohn nennt.

Den Bund Gottes mit Abraham und Jakob deutet der Erzähler als eine dialektische Einheit von Gott und Mensch, in der sich beide ergänzen, um in einem Prozess gegenseitigen Wirkens Vollkommenheit zu erreichen. Nur im Zusammenwirken können beide, Schöpfer und Erschaffene (Autor und Werk?), die Mängel der Schöpfung verringern und beseitigen und so einander heiligen – es ist dies wohl die sanft- ironische Aufforderung an die Menschheit, die eigene Unvollkommenheit zu erkennen und zu heilen.

So ist das Gottesbild – also die Projektion der eigenen Göttlichkeit – im steten Wandel; daraus lässt sich ein vorsichtiger Fortschrittsglaube im Sinne Hegelscher Dialektik schließen. Immer wieder kommt der Erzähler und Deuter des Lebens auf das Abrahamsche Opfer zu sprechen – da greift Jehova nicht ein und ruft das Halt! während der Opferung Isaaks, sondern Abraham erkennt Sinn und Unsinn des Opfers: sinnvoll ist der Glaube an die eigene Verantwortung: erkenne, dass du nicht dich selbst oder deinesgleichen aufgibst, sondern an dich selbst glaubst, als seiest du selbst Gott, also der Herr deines Schicksals. Gib dir ethische Regeln. Aber vergib dich nicht an Idole und Kirchgötter. Den Bund, den Abraham mit Gott schließt, denkt Thomas Mann über Paulus’ Theologie hinaus zum Bund mit sich selbst. Und genau das macht ihn – und später sein Volk – stark. Am Schluss des Kapitels „Wie Abraham Gott entdeckte“ küsst Gott Abrahams Fingerspitzen – wir sehen ihn hier geradezu in einer Steigerung von Michelangelos sixtinischem Bild der Erschaffung Adams – und ruft zum heimlichen Ärger der Engel aus: „Es ist unglaublich, wie weitgehend dieser Erdenkloß mich erkennt! Fange ich nicht an, mir durch ihn einen Namen zu machen? Wahrhaftig, ich will ihn salben!“

„Tief ist der Brunnen der Vergangenheit.“, so beginnt der Roman im „Vorspiel: Höllenfahrt“. Im Brunnen schlummern die Geschichten, die Lebensgesetze, die Archetypen menschlicher Ideen und Handlungen – das Wasser des Lebens. Der Brunnen, in den die älteren Brüder, in Wut und Neid, den hochfahrenden Joseph gefesselt werfen, ist leer und trocken. Auf dem Grunde des zum Glück nicht allzu tiefen Brunnens gelangt der vom Vater verhätschelte, unreife, unerfahrene, aber intelligente, schöne und die Herzen der Menschen gewinnende Joseph zu ersten grundlegenden Erkenntnis über sich und seine Situation, und so wird er sich selbst zum Wasser seines Lebens. Der Brunnen, in kaum maskierten Anspielungen mit Jesu Höhle, Grube und Grab genannt, wird zum Ort einer ersten Etappe der Auferstehung. Indem Joseph, den die Brüder als Sklaven an einen ägyptischen Händler verkaufen, sein Schicksal annimmt und sich gegen eine Rückkehr zum Vater, etwa durch Flucht, entscheidet, legt er den Grundstein für ein selbstbestimmtes Leben. Zwar denkt er noch, Gott führe ihn nach Ägyptenland; der Leser aber weiß, dass Joseph seiner eigenen Gottesprojektion folgt, sein Zwiegespräch ist in Wahrheit ein Selbstgespräch – Selbstbewusstwerdung, Emanzipation von den Brüdern, der Familie und dem Vater. Seine Selbstaufklärung ist der Ausgang aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Indem er sich zunehmend selbst führt, überwindet er Jaakobs selbstbezügliche Liebe, und überwindet einst ganz den Vater und seine allmählich abnehmende kindliche Gottesvorstellung. Schließlich gelingt ihm die Gottwerdung, auf die der Erzähler immer wieder anspielt. Etwa mit der Gleichsetzung von Gott und Schlachtopfer (so der Alte im Kapitel „Nachtgespräch“), gemeint ist Gottes Tod und Auferstehung in Jesu Christus; Joseph wird vom Erzähler (im folgenden Kapitel „Anfechtung“) selbst als „Ganzopfer“ bezeichnet. Hier wird Gott zum Platzhalter der Vernunft abstrahiert. Wenn Joseph sagt, der Ismaeliter reise mit ihm nur da hin, wo Gott ihn haben wolle (im folgenden Kapitel „Ein Wiedersehen“), so folgt Joseph der Vernunft, also sich selbst, denn er ist es, der abgesehen von gesellschaftlichen und biologischen Determinanten sein Schicksal entscheidet. Er wird sich bald wie ein Auserwählter der Vernunft erscheinen.

Das erinnert an D. H. Lawrence’ großartige (vor allem theologie- und kirchenkritische) Erzählung „The Man Who Died“ (1928). Der vom Kreuz genommene Jesus ist nicht wirklich tot, er wacht wieder auf, flieht aus dem Felsengrab und besinnt sich, er erkennt seine Instrumentalisierung durch jene, die mit ihm eine Kirche errichten wollen zur Lenkung der Menschen, er entdeckt sich selbst und seine Rolle; in der Begegnung mit einer Tempel-Priesterin des Isis-und-Osiris-Kults erfährt er die Sexualität, die ihm die Redakteure des Neuen Testaments aberkannt haben – und ergreift zuletzt den bürgerlichen Beruf des Zimmermanns – so wird er zum Dachdecker seines Ich-Hauses.

Und der Tod? Der endgültige? Gehört er auch zu den Archetypen, zu den mythischen Wiederholungen? Natürlich. Er kam ja schon vor im jungen Leben Josephs. Es ist alles so einfach, so einfach wie in Our Town. Wir durchlaufen die Lebensstufen, ohne zu wissen, was sie sind. Wir leben mythisch. Alles war schon da, wir erfinden unser Leben nicht. Mythos und Cliché sind dasselbe. Ich bin, fühle ich, also lebe ich, sagt sich das Kind. Die Welt, die mich umgibt, ist mein Schicksal, der Blitz kann mich treffen, vor dem Regen renne ich weg. Wenn ich die Augen schließe, wenn ich spiele, erschaffe ich eine Welt nach meinen Regeln, und diese Welt gehört nur mir. Vielleicht kann ich diese halb geträumte Welt zu meinem Leben machen, wenn ich erwachsen werde. Ich bin ein König, ich throne vor dem goldenen Spiegel und auf den Mahagoni-Schränken der Großeltern, ich regiere den Hof, den Kellergang, den Sandkasten, den Bürgersteig und die Straße, die Wiesen, die Brücken, das Ufer der Saale, sie ist mein Nil, mein Mississippi … Und wenn ich groß bin, beherrsche ich meine ganze Welt …

Aber der Tod ist immer präsent. Ich wusste als Kind nicht, was das ist. Der Tod ist nur ein Schalter – ich knipse das Licht einfach wieder an, wenn es ausgeht. Und wenn die Glühbirne durchschmort? Egal, ich schraube eine neue Birne in die Lampe. Das Leben geht immer weiter. Es gibt im Leben nichts Archetypischeres als den Tod. Der Tod ist nur eine scheinbare Unterbrechung des Lebens, so glaubt es nicht nur das Kind. Das Leben umschließt den Tod, der nur ein Gegengedanke ist, um uns bewusst zu machen, dass wir leben. Natürlich lebt der Tote weiter! Sterben ist Lebenswandel, und Tod ist nur ein Name für ein anderes Leben, das wir nicht verstehen, weil wir im gegenwärtigen Leben das andere nicht in einem Satz denken können. So oder so ähnlich ahnen wir, was wir später erst formulieren können. Und bis dahin sind Traum und Spiel unsere Wirklichkeit.

Im Gespräch mit seinem kleinen Bruder Benjamin deutet der 17-jährige Joseph die Auferstehung voraus und verschmilzt verschiedene mythologische Vorstellungen des Orients miteinander – Tammuz- und Sonnenmythos, Adonis-Schönheit, Adonai-Herr, Dumuzi-Erbsohn – deutliche Vorwegnahmen der Auferstehung Jesu Christi.

Der Dialog zwischen dem jugendlichen Joseph und dem Kind Benjamin wird derart geprägt von einer elaborierten Sprache und religiösen Inhalten, dass der Leser, staunend und zugleich bewundernd, von der Gesprächssituation und Atmosphäre zwischen den beiden jüngsten Brüdern, die alles andere als realistisch ist, ergriffen ist – es ist diese Spur von Wahn-Sinn, wie sie auch an anderen Stellen des großen Romans immer wieder durchbricht. Der Erzähler erschafft eine fesselnde Sprache zwischen biblischem Erzählton und Alltagshymnik. Neben der theologischen Wohlbewandtnis verfügt der Erzähler unter der kalifornischen Sonne über eine Purzelbaumstilistik und Wärme der Erzählung ohnegleichen. Alles gewinnt hier: kindlicher Charme, die Erotik des jungen Körpers, der gekonnt lange Atem der Handlungs-Entwicklung, die sprachmanieristische Dialogführung. An so manchem Kapitelende denkt der Leser: Was für ein genialer Irrsinn! Und ist absolut fasziniert. Welch ein überirdischer Humor! Ironie gibt es meist auf einer Semimetaebene. Das Human-Humide triumphiert.

Vier Bände – man ist versucht zu glauben, Thomas Mann habe hier, gleichsam Wagners Nibelungen-Tetralogie überbietend, seinen „Ring“ geschrieben.

Sprachlich großartig. Neben langen und teils komplizierten Sätzen stehen kurze, manchmal poetisch prägnant. Im Gegensatz zur narrativen Kälte im Doktor Faustus spürt hier der Leser das warmherzige Mitfühlen mit den Hauptfiguren – Jaakob, Joseph, Rahel. Die ironischen Subtexte beziehen sich eher auf theologisch relevante Bedeutungsschichten oder auf Unterschiede zwischen den gesellschaftlichen Rollen von Mann und Frau, oder auf zeitlose Phänomene des Lebens. Auch diese sanfte Ironie erscheint eher wie eine Variante tiefen Humors.

Thomas Mann treibt in seinem apotheotischen Entwicklungsroman ein subtiles Spiel mit den bibelbezogenen Themen, man muss da nicht alles auf die Goldwaage wissenschaftlicher Exegese legen. Gott erscheint als gesellschaftlich und individuell nützliche Projektion, eigentlich mehr ein dialektisch sich entwickelndes, also veränderliches ethisches Fundament mit demokratischer Anpassungs- und Kompromissfähigkeit.

Die Messias-Idee, im Roman oft spielerisch, leicht ironisch gebrochen, tritt auf als Sehnsucht und Irrweg, sinnvoll nur in der Selbstbezüglichkeit: Jeder Mensch ist sich selbst ein Messias, also Gott und Gestalter seines eigenen Lebens.

Der Falten- und Schattenwurf der sich fortpflanzend wiederholenden Mythen – Thomas Mann wurde zu dieser bibelexegetischen Erzählidee angeregt durch Sigmund Freud -, der schicksalhaften Geschehnisse im Leben der Familien und Einzelnen, oft spielerisch variiert, oft auch nur spielerisch so gedeutet – etwa in der humorvollen Episode von der Eselin Hulda, die mit einem Fuß in ein Erdloch tritt … stürzt und sich vermeintlich die Fessel bricht und so den Fall Josephs rückblickend ‚vorauszudeuten’ scheint.

Das Mythenspiel ereignet sich in ernsthafter und willentlicher Aneignung Josephs, in der es  umgewandelt, abgebogen, kompensiert und sublimiert lebt – es ist die geistig-seelische Evolution, und in der Auferstehung konstituiert sich das Erwachsenwerden. Nicht nur einmal fällt Joseph in den Brunnen, mehr als einmal gelingt ihm die Auferstehung. Die Geschichte Josephs ist ein religiös und philosophisch akzentuierter Entwicklungsroman. Seinen Führer ins Ägyptenland, den alten Händler, nennt Joseph beim Abschied in Potiphars Haus seinen Heiland. Kurz danach reflektiert der Erzähler in dem bemerkenswerten Kapitel Wie lange Joseph bei Potiphar blieb über Josephs Mythenwiederholung: „Was er erlebte, war Imitation und Nachfolge; in leichter Abwandlung hatte sein Vater es ihm einst vorerlebt. Und geheimnisvoll ist es, zuzusehen, wie im Phänomen der Nachfolge Willentliches sich mit Führung vermischt, so daß ununterscheidbar wird, wer wen eigentlich nachahmt und es auf Wiederholung des Vorgelebten anlegt: die Person oder das Schicksal … alles Leben ist Ausfüllung mythischer Formen mit Gegenwart.“ Wie Joseph im Vater aufersteht – in Jaakob, nicht in Gott –, so geht auch der Erzähler, Thomas Mann, in der von ihm erzählten Josephs-Geschichte auf – es ist die Auferstehung des Erzählers in der Mythenverwandlung, er ist der schicksalhafte Beweger, Schöpfer seiner Erzählung nur halb, „der Erzähler ist zwar in der Geschichte, aber er ist nicht die Geschichte; er ist ihr Raum, aber sie nicht der seine, sondern er ist auch außer ihr, … Hundertmal ist sie erzählt worden und durch hundert Mittel der Erzählung gegangen. Hier nun und heute geht sie durch eines, worin sie gleichsam Selbstbesinnung gewinnt und sich erinnert, wie es denn eigentlich im Genauen und Wirklichen einst mit ihr gewesen, also, daß sie zugleich quillt und sich erörtert.“ – So wie Abraham Gott „hervordachte und erkannte“, so erkennt auch der Erzähler, Thomas Mann, sich selbst als dialektisches Gegenüber der Geschichte, die er mythenwandlerisch ‚nacherzählt’, und so geht es um die Auferstehung einer alten, halb schon verschütteten Geschichte, zu neuem Verständnis, zu neuer Bedeutung, und im erzählerisch reformierten Gottesbegriff kommt Thomas Mann der Existenzphilosophie Sartres sehr nah:

„L’homme n’est rien d’autre que ce qu’il se fait … La vie n’a pas de sens, a priori. Avant que vous viviez, la vie, elle, n’est rien, mais c’est à vous de lui donner un sens, et la valeur n’est pas autre chose que ce sens que vous choisissez … Il n’y a pas d’autre univers qu’un univers humain, l’univers de la subjectivité humaine … L’Existentialisme n’est pas autre chose qu’un effort pour tirer toutes les conséquences d’une position athée cohérente. Si l’on appelle, comme les chrétiens, désespoir toute attitude d’incroyance, elle part du désespoir originel … Il faut que l’homme se persuade que rien ne peut le sauver de lui-même, fût-ce une preuve valable de l’existence de Dieu. L’homme est fondamentalement désir d’être Dieu.“ (L’Existentialisme est un Humanisme, 1949)

Die lange Erzählung von Joseph und seinen Brüdern ist in der Gestalt des Joseph, wie gesagt, ein Entwicklungsroman – auch im Hinblick auf die Entwicklung der Religion. In den greisen Eltern Potiphars, Huij und Tuij, erkennt Joseph die Überlegenheit seines Gottesbildes, das sich immer deutlicher in eine existenzphilosophische Weltanschauung verwandelt. Er sieht im Seins-Spiel der ewigen Wiederkehr den einen Gott, der in ihm aufersteht, wie auch Joseph zunächst in seinem Vater Jaakob, dann in Gott aufersteht. Das ist der „lebendige Gott“ im Gegensatz zu den toten Göttern im alten Ägypten. Und es ist zugleich die „Absage an jederlei Jenseits-Aussicht“. Religio wird hier aufs Schönste als Rückbindung verstanden, als Selbstbesinnung, Selbstrechtfertigung, Selbsterzeugung in Welterschaffung und Selbstvervollkommnung – mit Rückbindung an die Vernunft: Ebenbildlichkeit in personaler Einheit mit Gott als Alter Ego, also mit sich selbst.

Huij und Tuij, das inzestuöse Zwillingsgeschwisterpaar, opferte die Männlichkeit ihres Sohnes schlechten Gewissens den ägyptischen Göttern, die teils selber inzestuös sind, Isis und Osiris etwa; jetzt wo sie dem Tode näher rücken, bekommen sie Angst vor dem Totengericht – sie spüren, dass ihr moralischer Standard längst nicht mehr up to date ist, da sich die göttlichen Herrschaftsverhältnisse geändert haben, und so retten sie sich in ein seniles, absurd-rechtfertigendes Lachen über ihre Cleverness, als sie sich mit dem unmenschlichen Opfer von ihrer Sünde freizukaufen suchten. Aber sie verlachen sich selbst. Joseph erkennt ihr falsches Opfer, ihre „Gottesdummheit“; diese steht in einer Reihe falscher Opferhandlungen.

Die religionskritische Dimension des Romans wird hier erkennbar. Es gibt keine Religion ohne Handeln nach dem Glauben, das sich zum Ritual verfestigt. Und genau da entsteht Kirche, sie ist gleichsam schon da, ehe sie erbaut ist. Das wird auch die monotheistische Religion betreffen, deren Überlegenheit sich mit Joseph zeigt. Joseph lässt mit der Rückbindung an die Vernunft einen utopischen Horizont erahnen – Religionen alten Musters in diesseitiger Beschränkung zu überwinden. Es geht um die Befreiung des Christentums und des Islam von aller Bevormundung. Ob diese neue Aufklärung realisierbar ist, bleibt fraglich im Dickicht von Vernunft und Erkenntnis in Wechselwirkung mit menschlichen Trieben und demokratischen Kompromissen.

Sieht Thomas Mann die Mythen in seinem ‚Ring’ von Joseph und seinen Brüdern als Leitmotive? Folgt der Götterdämmerung die Menschheitsdämmerung? Das sind wohlwollend humorvoll-ernste Nebenfragen. Alles in allem ist das vierteilige Erzählwerk ein Plädoyer der Mündigkeit im Rahmen einer evolutionär-demokratischen Selbst- und Fremdentfaltung. Das ist Hans Castorps Erkenntnis im Schnee-Kapitel noch einmal anders und erweitert formuliert, nämlich ausgeweitet ins Gesellschaftliche.

So gesehen ist Thomas Manns Joseph-Roman auch ein Gegenentwurf zum europäischen Faschismus in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts und zu den in letzter Zeit wieder erstarkten autoritären Systemen, die sich auf populistische Methoden gründen. Ihnen gegenüber erscheint die Herrschaft Pharaos, der sich, motiviert durch Joseph, später in Ech’n-Aton umbenennt, wie eine das Gesamtwohl verantwortende Monarchie. Diese ist zwar weit entfernt davon, sich zu einer Demokratie zu entwickeln – Thomas Mann durfte und wollte keinen anachronistischen Roman schreiben –, aber der junge, freigeistige Pharao erkennt durch Joseph, dass eine polytheistische Religion nicht mehr relevant sein kann, wie es ja auch nur eine Vernunft gibt, die für alle gilt. „Es heißt die Einheit der Welt verkennen, wenn man Religion und Politik für grundverschiedene Dinge hält, die nichts miteinander zu schaffen hätten noch haben dürften, so daß das eine entwertet und als unecht bloßgestellt wäre, wenn ihm ein Anschlag vom anderen nachgewiesen würde. In Wahrheit tauschen sie das Gewand, wie Ischtar und Tammuz das Schleiergewand tragen im Austausch, und das Weltganze ist es, das redet, wenn eines des anderen Sprache spricht.“, schreibt der Erzähler vor dem großen Gespräch Josephs mit Pharao. Da dieser als Gott angesehen wird, liegt der Gedanke an den lebendigen Gott nahe, dessen Wirken Joseph in sich selbst erkennt. So wird der Kuss, mit dem Pharao sich mit Joseph verbündet, zur Vereinigung zweier ‚Götter’ im Namen der Vernunft. Gott und Mensch werden austauschbar, sie helfen sich gegenseitig. Dieses Bündnis macht nicht nur zwei Menschen reifer, sondern auch deren Gottesbegriff und das altägyptische Gesellschaftssystem, das in der Romanfiktion auch die Kritik am Faschismus des Dritten Reichs bis hin zum theokratischen Missbrauch unserer Zeit impliziert. Der Kuss, den Pharao Joseph gibt zum Zeichen einer Neuorientierung, ist ein menschlicher, philosophischer und vor allem politischer Akt der Entscheidung, die sich in Josephs an Noahs Arche erinnernde Vorsorgewirtschaft segensreich auswirkt.

Die Entwicklung Josephs, seine Brunnenstürze, seine allmähliche Reifung – das ist es, was uns bewegt. Für die zwei großen Aspekte unseres Lebens: Wie sollen und können wir leben und wozu? Und: Was kommt danach?, finden sich in Thomas Manns Joseph-Roman Antworten, jedenfalls für den ersten Aspekt. Für den zweiten gibt es keine Antwort außer dem Glauben. Und so habe auch ich, der Leser, eine Religion, wie wohl jeder Mensch. Glauben ist wohl die beste Übersetzung des Wortes Religion. Nur glaubt nicht jeder nach den Vorgaben der Religionen. Religio heißt Rückbindung, so sagen die Religionslehrer – aber an was?Der Römer in der Antike verstand unter religio Gewissenhaftigkeit und meinte – so Cicero – das Wiederlesen (relegere) der Tempelvorschriften. Und da haben wir das Problem: die Kirche. Nun gut, neuere Theologie will es besser meinen, weniger Kirche, mehr Glaube (schon Luther wollte das). Aber so ganz ohne Kirche will es wohl bis heute nicht recht gelingen … Schleiermachers Definition („Religion ist das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit von Gott“) klingt schön, aber sie birgt in sich diese weder beweisbare noch unbeweisbare Gottes-Annahme. Kant meinte, die Annahme, Gott existiere, sei sinnvoll. – Theologie ringt um die Deutung neutestamentlicher Verheißungen – und schwebt immer noch in der Starre der Parusie … Man gibt den Kinderglauben nicht auf, er eignet sich zu gut für Kirche und moralische Herrschaft – oder für die Selbstüberredung zu einer Auferstehung in eine transpersonale Einheit mit Gott nach dem Tode als Trost für die Endlichkeit des Lebens. Wem das gelingt und guttut, der kann sich glücklich schätzen. Jeder nach seiner façon.

„Soll ich hinzufügen“, fragt Thomas Mann (in: Neue Studien, Bermann-Fischer Stockholm 1948), „daß wir die Leiden, durch die wir jetzt zu gehen haben, die Katastrophe, in der wir leben, der Tatsache zu danken haben, daß wir der Gottesklugkeit in einem Grade, der längst sträflich geworden war, ermangelten?“ (S. 184f.) „Da ist Einer, der Gott nicht entdeckt hat, aber der ihn zu ‚behandeln’ weiß; Einer, der nicht nur der Held seiner Geschichten, sondern ihr Regisseur, ja ihr Dichter ist und sie ‚schmückt’; Einer, der zwar auch noch teil hat am Kollektiv-Mythischen, aber auf eine witzig-vergeistigte und verspielte, zweckhaft-bewußte Art. Kurz, man sieht, das sich befreiende Ich ist sehr bald ein künstlerisches Ich … in Joseph mündet das Ich aus übermütiger Absolutheit zurück ins Kollektive, Gemeinsame und der Gegensatz von Künstlertum und Bürgerlichkeit, von Vereinzelung und Gemeinschaft, Individuum und Kollektiv hebt sich im Märchen auf, wie er sich nach unserer Hoffnung, unserem willen aufheben soll in der Demokratie der Zukunft, dem Zusammenwirken freier und unterschiedener Nationen unter dem Gleichheitszepter des Rechts.“ (S. 181f.)

Religion ist für Thomas Mann das, was sie für Joseph ist: „… Aufmerksamkeit auf innere Veränderungen der Welt, auf den Wechsel im Bilde der Wahrheit und des Rechten; Gehorsam, der nicht säumt, Leben und Wirklichkeit diesen Veränderungen, diesem Wechsel anzupassen und so dem Geiste gerecht zu werden. In Sünde leben heißt gegen den Geist leben, aus Unaufmerksamkeit und Ungehorsam am Veralteten, Rückständigen festhalten und fortfahren, darin zu leben. Und von der gerechten Furcht vor dieser Sünde und Narrheit ist jedesmal die Rede in dem Buch, wo von der ‚Gottessorge’ die Rede ist.“ (S. 183)

Joseph nicht Atôn, sein Gott ist nicht die Sonne, die weder als Ding noch Symbol die Welt zu umgreifen vermag. Er ist kein Isaak-Opfer, das geben seine Brunnenstürze nicht her, er ist allenfalls eine Variation in der Umkehrung: aus dem Opfer wird ein dialektisch wachsender und reifender Bund mit Gott, den der Leser als einen Bund mit der liebenden Vernunft begreifen kann, und Joseph ist auch nicht Adôn, der Herr, trotz so vieler Anspielungen auf Jesus Christus, mit dessen Selbstopfer am Kreuz er nichts zu tun. Aber mit ihm hat Joseph die Auferstehung gemeinsam. Die gibt es im Leben. Joseph hat sie zwei Mal erlebt.

 

***

Weiterfühend → 

Zum 50. Jahrestag des Erscheinens liest Ulrich Bergmann Thomas Manns Doktor Faustus. Über Thomas Manns Erzählung Der Tod in Venedig findet sich hier ein Artikel. Und Bergmanns Überlegungen der zum Untergang verurteilten bürgerlichen Welt vor dem Ersten Weltkrieg  anhand des Zauberbergs.

Es ist eine bildungsbürgerliche Kurzprosa mit gleichsam eingebauter Kommentarspaltenfunktion, bei der Kurztexte aus dem Zyklus Kritische Körper, und auch aus der losen Reihe mit dem Titel Splitter, nicht einmal Fragmente aufploppen.