Narrative Kälte in Thomas Manns Doktor Faustus

Im Vergleich zu den mühelos zu konsumierenden „Buddenbrooks“, dem atmosphärisch dichten „Zauberberg“ oder dem heiteren „Felix Krull“ macht es der düstere, mitunter spröde wirkende Faustroman dem Leser nicht leicht. „Doktor Faustus“ treibt ein Spiel par excellence mit den Bedeutungsebenen. Ulrich Bergmann über Thomas Manns wildesten Roman.

In der Tat, wie der Erzähler Hans Castorp fallen lässt (nicht erst am Schluss), das hat eine didaktisch-kritische Kälte ohnegleichen. Auch Adrian Leverkühn wird im Ganzen recht distanziert behandelt. Thomas Mann benutzt Leverkühn und die atonale Musik als Groß-Metaphern. Leverkühn ist nicht der tätige Faust Goethes, sondern schließt sich im fiktiven Pfeiffering bei München ein in seinen Elfenbeinturm – und tut nichts gegen den sich anbahnenden deutschen Faschismus, wie die ihn umgebende gesellschaftliche, künstlerische und intellektuelle Elite, die völlig versagt.

Es sind alles Antihelden, der Erzähler muss kalt sein. Thomas Mann will Leverkühn durch seinen Erzähler Zeitblom, einen Freund Leverkühns, freundlicher behandeln – und er versucht zu differenzieren: einerseits ein faustisches Künstlertum mit bedeutenden atonal-freitonalen musikalischen Werken, andererseits die Verdammung der kalten 12-Ton-Technik als Ahnung und Spiegel faschistischer Unmenschlichkeit. Meines Erachtens gelingt das Doppelspiel nicht, falls es ein Doppelspiel sein soll. Thomas Mann verdammt beides: die Künstlerexistenz Leverkühns und die atonale Musik, die er hier als Metapher instrumentalisiert. (Verständlich, dass sich Schönberg in diesem Roman missbraucht sah.)

Schwierig ist die Deutung des Selbstbezugs: TM spiegelt sich ja selbst in Zeitblom und Leverkühn. Als Zeitblom ist er der enzyklopädistisch Gebildete und politische Mahner und Kritiker, als Leverkühn der Künstler, der nur im Verzicht auf Subjektivität (also auch Liebe) zu allgemeingültigen Werken gelangt. In der Kombination Zeitblom/Leverkühn gewinnt er für sich das politisch bewusste Künstlertum. Ein Grattanz, der in den Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull ähnlich schwierig ist. 

Vielleicht hätte Thomas Mann besser gewisse Richtungen der abstrakten Malerei nehmen sollen – die optische Kunst steht der literarischen Sprache ohnehin viel näher als die Musik. Zur Musik von Schönberg, Webern, Berg hatte Mann keinen Draht. Er hielt sie offensichtlich für einen Irrweg. Da stand und steht er nicht allein. Ich glaube nicht, dass die atonale, freitonale, dissonante Musik als Metapher für den (Hitler-)Faschismus taugt. Einzelne musikalische Phänomene lassen sich dem Geist eines Zeitalters (immer nur partiell) sicherlich zuordnen. Aber die Umkehrung oder Auflösung der harmonischen Ordnung in der Musik? Da wird das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Mit Leichtigkeit hätte sich ein Roman schreiben lassen, in dem die romantische Musik Wagners als verführerisch und die Ordnung der Harmonie als autoritär gesehen wird, während die freitonale Musik als Befreiung von zwingender Ordnung, als Apotheose der Freiheit darstellbar wäre. 

Nun rückt Thomas Mann auch das Faustische zum Faschistischen – und da wird entweder dem Faschismus zuviel des Guten angetan oder dem Faustischen übel mitgespielt. Der Goethische Faust ist ja kein Frankenstein, sondern das gesamte Drama will Archetypen unseres menschlichen Seins bewusst machen. 

Mich interessieren bei Thomas Mann nach wie vor mehr sein WIE des Erzählens, die Hintergründigkeit, die Großmetaphern, die ironische Vielfalt, die Selbstreferenz innerhalb der Erzählung, das Skurrile in Vokabular und Syntax, … Manches sehe ich auch hier kritisch (gewollte Umständlichkeit und Stilpirouetten). 

Ich denke, dass die Buddenbrooks und der Zauberberg überzeugendere Romane sind als das Spätwerk Thomas Manns, der – Händel ähnlich – ein Frühvollendeter war. In den Buddenbrooks zeigt er sich als Vollender Theodor Fontanes im Übergang zum magisch-realistischen Erzählen.

 

 

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Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde entstand zwischen dem 23. Mai 1943 und dem 29. Januar 1947

Ulrich Bergmann

Weiterfühend → 

Lesen Sie auch Ulrich Bergmanns Gedanken zu Thomas Manns Roman „Joseph und seine Brüder“. Über Thomas Manns Erzählung Der Tod in Venedig findet sich hier ein Artikel. Und Bergmanns Überlegungen der zum Untergang verurteilten bürgerlichen Welt vor dem Ersten Weltkrieg  anhand des Zauberbergs.

Es ist eine bildungsbürgerliche Kurzprosa mit gleichsam eingebauter Kommentarspaltenfunktion, bei der Kurztexte aus dem Zyklus Kritische Körper, und auch aus der losen Reihe mit dem Titel Splitter, nicht einmal Fragmente aufploppen.