Nachtschaum

Tom wachte auf, ging ins Bad, die Sonne entzündete die weißen Kacheln. Die Wände blendeten den jungen Mann. Ich habe Angst vor dem Unsichtbaren, das mich im Raum bedroht. Ich wache auf, aber nicht richtig, nicht ganz. Ich stehe auf und gehe zur Tür. Die Angst bleibt. Ich will wach werden, schaffs aber nicht, will die Angst loswerden, schaffs aber nicht. Der Schlag auf den Lichtschalter rettet mich, nicht sofort, aber bald. Ich geh ins Bad und seh im Spiegel mein Gesicht. Ich lasse Wasser über meine Hände laufen und alles ist gut. Ich habe eine gestaltende Kraft, wenn die Nacht zu stark wird. Ich steige aufs Dach und springe in die Tiefe. Ob der Fliegende erst schweben muss und ob sich das Fliegen dann als schwebendes Fliegen über der Erde begreift, bleibt in der Schwebe wie die Frage, warum er schwebt oder fliegt, ob er fliegen will oder schweben soll. Ich muss, weil ich will, aber ich will nicht, weil ich soll, ich weiß nicht, ob ich für mich fliege oder mit mir selbst schwebe, und ich weiß auch nicht, was es bedeutet, wenn ich schwebe, bevor ich fliege, ob ich zum Fliegen bestimmt bin oder zum Schweben. Dieser Zustand zwischen Schweben und Fliegen, der mir nichts sagt, sagt sich selbst vielleicht alles, will nur sich selbst bedeuten und sonst nichts. Wie unser ganzes Leben, ein Steigen und Fallen, das sich wechselseitig negiert und endlich aufhebt. Im Aufprall auf die harten Steine werde ich wach und rette mich in die nächste Nacht. Tom ging zum Waschbecken. Er wollte den Schlaf aus den Augen schwemmen und seine Haut im Spiegel über dem Becken sehen. Es ist viel zu hell hier, dachte er. Er sah nichts. Er beugte sich über das Becken zum Spiegel an der Wand. Aber der Spiegel fehlte! Tom senkte den Kopf und schaute an seinem Körper hinunter. Halb aufgestanden zeigte der Schwanz nach vorn, auf der Kuppe noch der Schaum der Nacht. „Sag mal, wo ist denn der Spiegel?“, rief er über die Schulter zurück, während er mit der rechten Hand zum Wasserhahn griff. Sara lag noch im Bett. Er hörte, wie sie ihren Körper dehnte. Seine Hand fasste ins Leere, tastete tiefer und stieß im Schwung gegen eine scharfe Kante. Tom schrie leise auf, als er das offene Wasserrohr sah. Die Augen suchten links und rechts den Hahn, da hingen die Handtücher an den Haken wie immer. Da war kein Hahn. „Sara!“ Tom schrie nach der Ursache. Kein Spiegel, kein Wasser! Da springt Sara aus dem Stoff, die Tür zum Bad zersplittert, Sara steht im Flutlicht hinter Tom. „Aus dem Wasserhahn kam schlechtes Licht“, sagt sie, „das riss ich aus dem Rohr!“ Saras Haut glänzt im dampfenden Schweiß. Ihre Stimme klingt sanft, aber Tom erstarrt, als sie über ihn hinaus wächst und mit breiten Beinen über ihm steht. Sie nimmt Toms Kopf  zwischen die zitternden Schenkel und presst sie zusammen, bis ihm Hören und Sehen vergeht. Dann spreizt sie die Beine weit auseinander, und während die Füße auf den Kacheln weggleiten, sinkt sie zu Boden, bis Toms Zehenspitzen im Becken verschwinden. Atemstillstand.

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Kritische Körper von Ulrich Bergmann, Pop Verlag Ludwigsburg, 2006

Ulrich Bergmann bezeichnet den Zyklus Kritische Körper als ‚Criminal Phantasy’. Der Leser findet in diesen Kurzgeschichten eine für diesen Autor typische Montagetechnik, unterstützt durch einen imagistischen Bildgebrauch und die Verwendung extremer Bilder. Von der Figurenzeichnung bis zum Handlungsablauf ist jederzeit klar, wie in diesem Zyklus die moralischen Grenzen verlaufen. Bergmann schreibt gegen den drögen Realismus der modernen Literatur an, und in der Tat besteht das Realistische seiner Literatur darin, das Grausame in seine Texte einfließen zu lassen, wobei sie plausible Beschreibungen des Innen und des Außen seiner Figuren auch ins Fantastische verlängern. Er erklärt uns eine Welt, in der sich die Bedeutung der Wirklichkeit nicht an der Oberfläche erschließt. Der Leser muss sich selber von der Abgründigkeit überzeugen.

Weiterführend → Lesen Sie auch zum Zyklus Kritische Körper den Essay von Holger Benkel.