Nikotin

23:19

Marc stand mit hängenden Armen vor dem kräftigen Mann und grinste ihn herausfordernd an. „Haste Zigaretten…?“ Der steckte die rechte Hand in die Hosentasche. „Nein.“ Jannis und Luk rückten von links und rechts nah an den Mann ran. „Ich kann keine Zigaretten mehr sehen“, sagte der Mann. Luk rempelte den Mann leicht an der Schulter. Er hob beide Arme, um sich aus der Bedrängung zu befreien. „Haut ab!“ Marc ließ die brennende Zigarette fallen und schlug zu, direkt unters Kinn. Jannis und Luk hieben die Fäuste an die Schläfe, links rechts, stießen sie in den Magen und in die Seite, bis er zusammenfiel. Marc trat ihm zwischen die Beine. Luk sprang mit beiden Füßen auf den Rücken und tanzte eine Weile auf dem Körper herum. In der Schildergasse war kein Mensch zu sehen. Der Mann lag zusammengekrümmt auf dem Steinboden, die Hände zwischen den Beinen. „Ich kann keine Zigaretten mehr sehen!“, höhnte Jannis. Marc hob seine Zigarette auf, nahm einen tiefen Zug, ging in die Hocke, dann schrie er dem vor ihm Liegenden ins Ohr: „Steh auf!“ „Steh auf und wandle!“, schrie Luk. Jannis zog den Arm nach oben, sie zerrten zu dritt den Mann in die Höhe, bis er auf den Beinen stand. Marc drückte die brennende Zigarette auf dem rechten Auge des Mannes aus. Er schrie auf. „Schnauze!“ Jannis schlug zu. Er nahm das linke Auge. Luk stimmte den Kanon an: „Ich kann…“ Marc und Jannis fielen gleichzeitig ein: „…keine Zigaretten | mehr sehn…“ Sie waren eingespielt in der Choreographie ihrer Gewalt, das machten sie immer so.

23:55

Niemand hatte den Mann verraten. Ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er in der Nacht zusammengeschlagen und gefoltert. Die Augen brannten blutrot, aber er konnte wieder sehen. Über ihm summten die Glühfäden des grellen sechsarmigen Kerzenleuchters. Die Jungen hatten den Mann aufs Metallbett gefesselt und ihm einen Knebel in den Mund gesteckt. Wer sind sie? Warum tun sie das? Er hörte kleines Gelächter im Nebenzimmer, die Tür stand offen. „Hanna kommt erst morgen früh aus Hamburg zurück“, sagte Marc. „Wir haben die ganze Nacht Zeit.“ Luk fragte: „Haste Bier hier?“ „Nee“, sagte Marc, „wir saufen heut mal anders.“ Luk verstand das in diesem Moment noch nicht, aber Jannis lachte laut auf.

0:05

Ich staune nicht über das Zimmer, aber ich verstehe es nicht, dachte der Mann. Er lag im Halbschlaf auf dem Bauch und biss schon träumend ins Tuch. Die Frau, die unter ihm lag, war glatt und nass, zuckte sanft zusammen und dehnte sich. Er fasste sie, presste die Lippen auf ihren Mund und zog mit der Zunge durch ihr Gesicht, leckte die weit geöffneten Augen, trank sie durstig auf, wie ein Hund. … „Kennt er sein Urteil?“, fragte Jannis. „Nein“, sagte Marc, „wozu?“ „Jeder von uns verurteilt ihn auf seine Weise“, schlug er vor. „Jannis, Luk, dann ich.“ … Die Frau wurde hart und steif wie ein Brett, der Mann stöhnte. „Ich fresse dich!“ Das ist der Sachverhalt.

0:22

Jannis zog dem Mann Jacke und Hemd aus. Im Schubfach der Kommode fand er ein Kletterseil, mit dem er ihn aufs Bett band, damit er bei der Folterung nicht störte. Aus dem Bad holte er eine Rasierklinge, die er dem Mann vor die Augen hielt. Marc ahnte, was Jannis vorhatte, ging in die Küche und kam mit einem Tranchiermesser zurück. Jannis lachte. „Erst mal nur die Klinge“, sagte er. „Ich will wissen, ob er mich lesen kann. Ich will das endlich wissen.“ Er setzte die Klinge unter den Halswirbeln an und zog einen vertikalen Schnitt bis zum Steiß. Das Blut trat langsam aus der Haut heraus, der Schnitt war nicht tief, Jannis wollte sein Urteil von Schnitt zu Schnitt steigern. Dann schnitt er von der linken Schulter zur rechten. Mit einem kleinen Wattetuch tupfte er den Buchstaben ab. Der Mann weinte leise. „Du bist ein Fremder, sei still!“, sagte er, „der erste Buchstabe ist der schwerste für dich.“ Die Klinge schnitt tiefer, als Jannis aus dem Schwung des Arms einen Bogen in die Haut zeichnete, vom Hals  zur rechten Hüfte, von da zum Steiß, zur linken Hüfte und zum Hals zurück. Dann nahm er das Messer zur Hand. „Ich schreibe deinen Namen!“, sagte er. Marc lachte laut auf.

1:01

„Mach die Brücke!“, sagte Jannis zu Luk, dem nichts einfiel. Luk wurde das Spiel zu gefährlich, das spürten sie. Aber die Brücke war nicht so schwer, wenn die andern mithalfen und nicht bis zum Äußersten gingen. Luk schob die Kommode zum Schreibtisch, zwischen beiden blieb ein Zwischenraum von einem Meter. Marc und Jannis legten den Gefesselten mit dem blutenden Rücken nach oben über die Lücke, Kopf und Arme banden sie mit dem Kletterseil am Schreibtisch fest, Unterschenkel und Füße an der Kommode. … Ich bin steif, heiß, bin eingebohrt, träume über Berg und Tal. Dunkler rauscht der Bach. … Marc stieg auf den Schreibtisch. „Ob der mich trägt?“ Er nahm das Lineal und fuhr dem Mann damit in die Haare, spielte mit den Augen, schlug auf das Knebeltuch. Das Licht summte durch die stickige Luft, als Marc Anlauf nahm. „Spring nicht!“, schrie Luk. „Keine Angst“, sagte Marc langsam, er setzte den Fuß auf die Schulter des Mannes, stand mit einem Bein auf ihm und wippte leicht. Wirbel knackten. … Ich dreh mich, ich stürze, schon liege ich zerrissen auf den spitzen Kieseln, die mich aus rasendem Wasser anstarren. … Marc sprang zu Boden. „Ich geh da nicht drüber, nachher fall ich noch.“

1:44

„Ich verurteile dich jetzt zum Tode!“, sagte Marc. Luk wurde schwarz vor Augen, er wusste, jetzt will Marc alles überbieten. Luk hob den Arm. „Halt’s Maul!“, sagte Marc. „Er soll erfrieren.“ Er holte alle Eiswürfel aus dem Gefrierer, schüttete sie in einen kleinen Blecheimer, zog über den Eimer eine Plastiktüte, in die er eine halsdicke Öffnung schnitt, und steckte den Kopf des wieder auf das Bett gefesselten Mannes ins Eis. Den Eimer band er fest. „Kaltgestellt“, sagte er. Luk hörte das Atmen im Eimer. Marc stellte neues Wasser in den Gefrierer. … Schnee zwischen mir und dir. Sie fasst mich und schlägt ihr Gesicht gegen meins. Du Vieh! schreie ich wütend. Ich höre die Kette klirren. Ich höre, wie die Tür birst und splittert.

2:00

Luk ging zum Bett und schnitt das Seil durch. „Bist du verrückt!“, schrie Jannis. „Du versaust das ganze Experiment!“ Luk sprang zur Tür, aber Marc, der das ahnte, warf ihm von hinten den Eisbeutel an den Kopf und Luk stürzte. Jannis zog Luk hoch, packte seinen Kopf, nahm Kinn und Schädeldecke in die Zange, und Marc schlug ihm den Eisbeutel so lange um die Ohren, bis Luk ohnmächtig war. „Er soll uns nicht noch einmal stören.“ Er riss drei Zigarettenpackungen auf, rieb den Tabak in eine Schüssel, schüttete eine halbe Tasse kalten Kaffee dazu und verrührte alles. Mit einem Spritzbeutel presste Jannis den Tabakbrei in den Hals des Schwächlings. … In den Fenstern schwanken die Pferdeköpfe. Im spitzen Winkel mit zwei Hieben der Hacke will ich sterben. Wie ein Hund. Was tue ich hier in diesem endlosen Winter? Nackt, dem Frost dieses unglückseligen Zeitalters ausgesetzt, treibe ich umher.

4:48

 

 

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Kritische Körper von Ulrich Bergmann, Pop Verlag Ludwigsburg, 2006

Ulrich Bergmann bezeichnet den Zyklus Kritische Körper als ‚Criminal Phantasy’. Der Leser findet in diesen Kurzgeschichten eine für diesen Autor typische Montagetechnik, unterstützt durch einen imagistischen Bildgebrauch und die Verwendung extremer Bilder. Von der Figurenzeichnung bis zum Handlungsablauf ist jederzeit klar, wie in diesem Zyklus die moralischen Grenzen verlaufen. Bergmann schreibt gegen den drögen Realismus der modernen Literatur an, und in der Tat besteht das Realistische seiner Literatur darin, das Grausame in seine Texte einfließen zu lassen, wobei sie plausible Beschreibungen des Innen und des Außen seiner Figuren auch ins Fantastische verlängern. Er erklärt uns eine Welt, in der sich die Bedeutung der Wirklichkeit nicht an der Oberfläche erschließt. Der Leser muss sich selber von der Abgründigkeit überzeugen.

Weiterführend → Lesen Sie auch zum Zyklus Kritische Körper den Essay von Holger Benkel.