Standing Ovations

Es war ein heißer Sommertag, die Sonne schmolz das letzte Eis zwischen den Gedanken, die Rudnikow hin und her schob. Nach dem Untergang der Sowjetunion war er nach Sankt Petersburg gereist. Leningrad, dachte Rudnikow. Bin ich nun in Leningrad oder bin ich in Sankt Petersburg? Wo bin ich, wenn ich zu meinen Erinnerungen reise? Bin ich in der Stadt, wie ich sie erlebte, oder bin ich in einer Stadt, die sich nun selbst erinnert?

Er hockte allein in einem Kahn, den er gemietet hatte um Ruhe zu finden in der Weite des Wassers. Das Wasser der Newa erschien ihm wie Land, auf dem er gehen konnte, wenigstens in Gedanken. Während er ruderte, sah er zu, wie er sich entfernte. Immer kleiner wurde Lenin auf dem Sockel seines Denkmals am Ufer, immer unbedrohlicher wirkte der Kreuzer „Aurora“, an dem er vorbeiruderte – aber hinter seinem Rücken spürte Rudnikow, der sich nicht umdrehte, die Macht der alten Zarenpaläste. Ich schaue in die richtige Richtung, dachte er, aber ich fahre in eine verkehrte Zukunft! Mit einem Mal packte ihn die Angst. Rudnikow stand auf, nun stand er groß im Kahn, er gewann eine bessere Übersicht über seine Lage. Da wirft er die Ruder weg, schreitet durch den Kahn hindurch auf Lenin zu, der schwankt entsetzlich hin und her, Rudnikow verlässt das taumelnde Holz und geht aufs Wasser. Der kurze Moment seines Gangs auf dem Wasser kam ihm vor wie die Ewigkeit, in diesem einen Augenblick durchschaute Rudnikow seine Zeit und ihre ganze Paradoxie, er sah die Unmöglichkeit seines Weges, und als er aus dem Wasser wieder auftauchte, war sein erster Gedanke: Nun bin ich getauft.

Die Zeit war stehengeblieben, und Rudnikow war einfach weitergegangen! Aber genau das ist die einzige Möglichkeit, die Zeit zu überwinden. Ich muss die alte Zeit wegwerfen, wenn ich eine neue leben will, dachte er. Rudnikow schwamm leicht. Das Wasser stand ihm bis zum Hals, in schweren Kleidern steckte er nun. Neben ihm trieb der verhasste Kahn. Mit Mühe bestieg Rudnikow den Kahn  und fischte die Ruder aus dem Fluss. Er zog die nassen Kleider aus, um sie in der Sonne zu trocknen, da bemerkte er am Handgelenk seine Uhr. Beim Sturz ins Wasser war sie stehengeblieben und nun ein sinnloser Zeuge für den Moment seines Untergangs. Oder war es mehr? Ich bin mit meiner Uhr ins Wasser gefallen, dachte Rudnikow, ich habe meine Uhr geliebt wie meine Zeit, die sie maß. Er fühlte, dass sie einen schönen Tod hatte. Er wusste, es war gut, wenigstens die Uhr zu überwinden, wenn das eigentliche Ziel die Überwindung der Zeit ist. Sollte er sich nun, um im täglichen Leben bestehen zu können, eine neue Uhr kaufen? Ging das jetzt überhaupt noch?

Rudnikow ahnte, dass seine uhrenlose Zeit noch nicht gekommen war, dass die zeitlose Zeit erst möglich wurde, wenn er sich selbst gebar. Er ging zu einem der Trödelmärkte, die wie Pilze aus dem Boden Russlands schossen. Eine neue Uhr wollte Rudnikow nicht. Er wollte eine mit Geschichte, eine alte Uhr, die noch geht. An einem Stand fand er eine POLJOT, eine stabile, wasserdichte Uhr. Gut geeignet für weitere Untergänge, dachte er. Ich möchte ihre Seele sehen, meinte er zu der Händlerin. Sie verstand ihn sofort und fragte ihn, ob er die Uhr verletzen wolle. Wenn Sie sie öffnen, verliert sie ihre Seele. Glauben Sie mir, die Unruhe schwingt sehr genau. Sie haben Recht, sagte Rudnikow, es ist nicht anders als bei uns. Diese Uhren, fügte er hinzu, stehen in einem eigenartigen Kreislauf der Dinge mit unserem Leben, wir dürfen gar nicht zu genau darüber nachdenken. Die Trödlerin lächelte. Aber worüber sie lächelte, blieb Rudnikow verborgen. Rudnikow zahlte. Er gab seine alte Uhr her und legte noch ein paar Geldscheine drauf. Ich darf ihre Seele nicht sehen, dachte er, ich kaufe mir eine Seele, die ich am Arm trage, aber sie spürt nie den Regen, der auf mich fällt!

Wo bin ich? Rudnikow spürte, wie die Erinnerungen zerronnen waren, dass die Zeit, die war, auf einmal nicht mehr war, was sie war, aber die Zeit, die er in diesem Moment erlebte, war noch nicht das, was sie hätte sein können: Ein Stück seiner Lebensgeschichte. Sie war zu sehr noch Anfang, eine Zeit auf geschmolzenem Grund; sie war noch nichts, wenn die Vergangenheit nichts mehr bedeutete, weil die Gegenwart noch keinen Sinn hatte, und in dieser ganzen Unruhe, die eintritt, wenn die Gedanken richtungslos werden, kam es ihm so vor, als sei die Zeit stehengeblieben.

Rudnikow ging geradewegs ins SHIGULI, wo sich die Freunde einst an den Abenden unter der Woche trafen und ihre Seelen öffneten, in die sie den Schatten des Biers gossen. Die Freunde von damals waren nicht mehr da. Aber die Hitze war wieder da, Rudnikow öffnete seine Seele und bestellte sich einen Krug Bier.

Als der Krug kam, stand Rudnikow auf, löste die neu erworbene Uhr vom Handgelenk, hielt sie in die Höhe und lenkte alle Blicke auf sich und die Uhr, die er über den Krug hielt. Es wurde still. Dann ließ er sie fallen. Die gekaufte Seele schlug in den Krug ein, dass das Bier hochspritzte. Die Leute machten große Augen. Es konnte gar nichts passieren, sagte Rudnikow. So sehr ich mich anstrenge mich zu zerstören – ich kann es nicht. Ich spiele mit meinem Leben, ich setze mich täglich unter Druck, und meine Trockenheit staut sich im Gehäuse, während die Unruhe, gleichmäßig angetrieben, sich ausschwingt, aber meine Zeit geht weiter und zeigt, im Kreise sich drehend, auf mich – das ist der Tod. Ich will leben!

Er bestellte sich noch einen Krug Bier, er wusste bald nicht mehr, wo er war, in Leningrad oder Sankt Petersburg, in Moskau oder Semipalatinsk, er wusste es nicht. Er warf die Zeit in den Krug. Er trank eine Uhr nach der anderen, sagten die Freunde.

Ich ertrage nicht länger die Unzerbrechlichkeit meiner Unruhe! Freunde, sagte er, ich muss mein Leben vom Mythos der Zeit befreien!

Zuletzt nahm er die Uhr, legte sie auf die Tischkante, rückte laut mit dem Hocker vom Tisch weg – da wurde es wieder still, Augen und Ohren aus allen Winkeln des SHIGULI waren auf Rudnikow gerichtet.

Es muss sein!, sagte er fest.

Er richtete sich auf, senkte den Kopf und schleuderte seine Stirn wie einen Hammer auf die Uhr, die vollkommen zerbrach. Die Rädchen rollten vom Tisch und fielen zu Boden. Langsam hob Rudnikow den Kopf. Kein Blut, kein Schmerz, nüchtern der Blick, die Augen klar. Die Freunde, die der Geburt seines Entschlusses staunend zugeschaut hatten, klatschten stehend Beifall angesichts solcher Lebensbejahung.

Alle verstanden ihn.

 

 

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Kritische Körper von Ulrich Bergmann, Pop Verlag Ludwigsburg, 2006

Ulrich Bergmann bezeichnet den Zyklus Kritische Körper als ‚Criminal Phantasy’. Der Leser findet in diesen Kurzgeschichten eine für diesen Autor typische Montagetechnik, unterstützt durch einen imagistischen Bildgebrauch und die Verwendung extremer Bilder. Von der Figurenzeichnung bis zum Handlungsablauf ist jederzeit klar, wie in diesem Zyklus die moralischen Grenzen verlaufen. Bergmann schreibt gegen den drögen Realismus der modernen Literatur an, und in der Tat besteht das Realistische seiner Literatur darin, das Grausame in seine Texte einfließen zu lassen, wobei sie plausible Beschreibungen des Innen und des Außen seiner Figuren auch ins Fantastische verlängern. Er erklärt uns eine Welt, in der sich die Bedeutung der Wirklichkeit nicht an der Oberfläche erschließt. Der Leser muss sich selber von der Abgründigkeit überzeugen.

Weiterführend → Lesen Sie auch zum Zyklus Kritische Körper den Essay von Holger Benkel.