Das eherne Zeitalter

– Sterben üben, dachte Kautsky, als er an einem dunkleren Tag seines Alltagslebens das Museum betrat, in dem er die Bilder alle schon auswendig kannte.

Kenne ich mich denn so gut wie diese Bilder?, fragte er sich. Ich sehe immer nur, wie ich werde, wenn ich werde wie meine Bilder, aber ich sehe nicht, was ich wirklich bin.

Immer habe ich geglaubt, das Museum ist viel mehr als eine schnöde Kirche mit der symbolischen Auslegungsfeier des Todes, es ist der bunte Tempel des Lebens, der Tempel  aller Tempel, in dem ich meine Seele in tausend Spiegeln erfahre. Darin ist alle optische Medizin. Das Museum ist Lebensgestaltungsort. Aber heute erschien ihm das Museum so dunkel wie der Tag selbst.

Kautsky, der Kritiker, lebte sein Leben schwer, er litt am Realen, auch in seinem belletristischen Beruf, und sein Leben war gar nicht sein Leben, das Leben war sein Leben nur, wenn er zu seinen Bildern ging. Nur dort (und im Kino) fühlte er das Leben als sein Leben. Denn in den Bildern und Filmen sah er die gestaltete Wirklichkeit immer mit dem Anspruch ihrer Korrektur, ihrer Verbesserung. Wenn er einen Verriss schrieb, rechtfertigte er seine Strenge mit den Worten: „Ich bin ja Kritiker geworden, weil ich Idealist bin!“

Heute fehlte ihm das Licht in seinem Tempel. „Er geht zu seinen Bildern wie andere zum Arzt“, sagten die Freunde von Kautsky, aber heute war alles dunkel. Draußen schien die Sonne. Kautsky war vor ihr geflüchtet mit den Worten: „Da drin ist es viel heller.“ Aber schon als er die große Treppe hochstieg, fehlte ihm, da es in ihm selbst so dunkel war, das richtige Augenlicht. Eigentlich brauchte er sein Augenlicht auch gar nicht richtig, weil er, wie gesagt, alle Bilder auswendig kannte, er wusste auch, an welcher Stelle die Bilder hingen. Er kannte jeden Raum.

Als er an den riesigen Bleibildern von Anselm Kiefer vorbei ging, machte er einen großen Bogen um sie. Er fühlte sich von den schweren Bildern eigenartig bedroht und hatte für einen Moment die Befürchtung, sie könnten von der Wand fallen und ihn erschlagen. Ein anderes Bild („Märkischer Sand“), so groß wie die Wand, an der es hing, jagte ihm so viel Schrecken ein, dass er den Saal ganz mied. In die Bleibibliothek, die er sonst so sehr liebte, ging er heute nicht hinein. Die überdimensional großen Bücher, dachte er, fallen mir auf den Kopf. Ich mag sterben, wie ich will, aber ein Buch darf mich nicht erschlagen.

Er kannte, wie gesagt, jeden Raum. Die Romantiker konnte er mit halb geschlossenen Augen abhaken, auch bei Feuerbach und Corinth genügte ein Augenblinzeln. Aber heute verfügte Kautsky nicht über die Sicherheit der Erinnerung wie sonst, er fühlte, wie sein Versagen kam, und er wurde unruhig, als er die Impressionisten, die er nur sehr langsam aufgezählt hatte, verließ und die Empore des Baselitz-Saals betrat. Er liebte den Baselitz-Saal wie kaum einen anderen, heute fürchtete er ihn! Die Bilder dort haben riesenhafte Formate. Oft hatte sich Kautsky, obwohl er die Größe solcher Kunst sehr schätzte, gefragt, ob die Bilder sich, halb so groß im halb so großen Raum,  behaupten könnten. Er sagte sich, das Museum ist kein Briefmarkenalbum, Baselitz hat keine Briefmarken gemalt. Heute stellte er sich eine ganz andere Frage, als er auf die drei sichtbaren Wände des Baselitz-Saals sah. Ihm wollte nicht einfallen, welches Bild an der Wand unter der Empore hing, auf der er stand.  Er beugte sich über die Brüstung, um nachzusehen, aber er zuckte zurück. Er schaute nach links, und nach rechts, da war niemand. Das Museum war in den Räumen der Gegenwartskunst, die kaum einer liebte, leer. In diesen Räumen waren auch selten Museumswärter (er hasste sie, weil sie ein anderes Verhältnis zur Zeit hatten als er). Kautsky aber liebte die kaum verstandene Kunst und er liebte auch ihre Leere. Hier bin ich frei, dachte er.

Er beugte sich wieder über die Brüstung, weiter als eben, und schaute nach unten, wo das Bild hing, aber er konnte es nicht erkennen, der Winkel war zu spitz. Kautsky wusste, im Baselitz-Saal hing nicht nur Baselitz, sondern auch Penck, zwei gigantische Bilder. An der linken Wand hing „Chi Tong“, fünf mal zehn Meter, das sah er. Aber welches Bild von Penck hing an der Wand unter ihm? Er sah zur Wand gegenüber. Da hingen die Baselitz-Bilder, frühe Werke, wo oben noch oben und unten unten war, trotzdem Skandalbilder, Kautsky erkannte „Die großen Freunde“, dann (unten ist nun oben und oben unten) die „Pastorale“ und den „Orangenesser“. An der rechten Wand hingen die Lüpertz-Bilder. Eigentlich ist der Baselitz-Saal gar kein richtiger Baselitz-Saal, dachte Kautsky, aber ich habe ihn immer Baselitz-Saal genannt. Dass mir jetzt das Bild von Penck nicht einfällt, spricht nur für Baselitz. Baselitz hat die stärkeren Bilder gemalt, dachte er, seine Werke gehören zum ehernen Bestand unserer Zeit, die Penck-Bilder müssen zittern, ob sie den Moment überdauern.

Immer weiter lehnte er sich nun über die Brüstung, ganz versunken in seine Gedanken und die Erwartung des Bildes, das er suchte, – bis er das Gleichgewicht verlor und kopfüber hinunterstürzte!

(War sein Sturz ein Bild, das Baselitz hätte malen können? Nein. Der wirkliche Sturz ist kein Bild, seinen Sturz hätte Baselitz als Auferstehung malen müssen.)

Kautsky fällt nicht lange, da klammert er sich mit den Händen an den oberen Rahmen des Bildes, ihm gelingt die Drehung des Körpers (Kautsky fiel so sicher wie eine Katze), sodass er nun mit dem Gesicht zum Bild, aber viel zu nah, und mit den Füßen nach unten an der Leinwand hängt. Das Bild hat mich vor dem Schlimmsten bewahrt, denkt er. Doch reißen plötzlich die beiden Drähte der Aufhängung, Kautsky fällt mit dem Bild auf den harten Steinboden des Saals, das Bild deckt ihn zu, die Leinwand hält.

Da kommen die Wärter gerannt! Kautsky stößt das Bild („DIS“, 1982) weg und flieht.

Was nun geschieht, ist der verzweifelte Lauf eines Kunstliebhabers, der im Diskurs mit den Bildern, die er suchte, obwohl er sie kannte, untergeht.

Kautsky entkommt mit Glück seinen Verfolgern. Im benachbarten Saal stolpert er über die Steine von Richard Long („Circle“, 1972) und fällt hin. Kautsky flucht. Er steht auf und rennt weiter, rennt gegen den „Akt auf einer Treppe“ (Gerhard Richter, 1966). Er ändert die Laufrichtung und stößt das „Bicycle Wheel“ (von Marcel Duchamp, 1913) um, dann kracht er gegen die Frau mit Umhängetasche (Duane Hansen, 1974), die er (nicht zum ersten Mal) für eine Besucherin des Museums hält. Hinter ihm die schnellen Schritte der Museumswärter. Kautsky rennt um sein Leben.

Ich bin nicht verrückt. Ich bin kein Bilderstürmer. Ich liebe die Bilder, ich bin doch selber nur ein Bild.

Kautsky gerät in die Sackgasse. Er ist wieder bei den Impressionisten im Gedränge der Museumsbesucher, er muss ihnen ausweichen. Er streift mit der Schulter Monets Kathedrale, und die Brücke von Arles. Die Bilder taumeln an der Wand. Alle Blicke sind auf Kautsky gerichtet. Er weiß gar nicht mehr, wo er sich befindet, er weiß nur, dass er auf der Flucht ist, ausgerechnet im Museum! Hier jagt ihn das Leben wie draußen.

Kautsky stürzt zu den Bildern von Renoir. Dort blendet ihn die Sonne, sie sticht ihm in die Augen – da wird es schwarz um ihn. Er ist gegen einen jungen Mann aus Bronze geprallt (Rodin, „Das Eherne Zeitalter“). Die Figur schwankt, so heftig war der Zusammenprall. Die Figur kippt um! Kautsky liegt betäubt auf dem Boden.

Alle starren auf den Kopf der Statue und auf Kautskys Kopf, sehen, von Grauen gepackt, den Fall des „Ehernen Zeitalters“ und schließen vor dem Zerschmettern des Kopfes die Augen.

*

(Als er Thomas Bernhards „Alte Meister“ rezensierte, schrieb Kautsky: „Wer ein Kunstmuseum betritt, muss wissen, dass er eine ganz besondere Gefahrenzone betritt, in der nicht nur die Gemälde und Bildwerke gefährdet sind, sondern auch der Kunstliebhaber, jedenfalls dann, wenn er, ein Lebensliebhaber, bereit ist das Gefahrenpotential, das ein Museum nun einmal bietet, voll auszuschöpfen. Wenn er also den existentiellen Charakter seiner Situation im Museum erkennt, kann er, im Diskurs mit den Bildern und Skulpturen, sein Leben immer wieder proben – Sterben üben!“)

 

 

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Kritische Körper von Ulrich Bergmann, Pop Verlag Ludwigsburg, 2006

Ulrich Bergmann bezeichnet den Zyklus Kritische Körper als ‚Criminal Phantasy’. Der Leser findet in diesen Kurzgeschichten eine für diesen Autor typische Montagetechnik, unterstützt durch einen imagistischen Bildgebrauch und die Verwendung extremer Bilder. Von der Figurenzeichnung bis zum Handlungsablauf ist jederzeit klar, wie in diesem Zyklus die moralischen Grenzen verlaufen. Bergmann schreibt gegen den drögen Realismus der modernen Literatur an, und in der Tat besteht das Realistische seiner Literatur darin, das Grausame in seine Texte einfließen zu lassen, wobei sie plausible Beschreibungen des Innen und des Außen seiner Figuren auch ins Fantastische verlängern. Er erklärt uns eine Welt, in der sich die Bedeutung der Wirklichkeit nicht an der Oberfläche erschließt. Der Leser muss sich selber von der Abgründigkeit überzeugen.

Weiterführend → Lesen Sie auch zum Zyklus Kritische Körper den Essay von Holger Benkel.