Poetry Slam

Kautsky stellte sich vor, wie sie kleine Plastikeimer mit Glasscherben austeilten. Die Girls kletterten in den Ring und rissen ihm das Hemd vom nassen Leib. Dann flogen die Scherben durch die Luft. Er brach zusammen. Der Saal zählte ihn aus. Kautsky zitterte. Als er wieder aufstand, trampelten sie alle Beifall und sangen das Lied der Südkurve.

Als die Luft im prallvollen Saal immer dicker wurde und das Holz nach Bier roch, schrie die Jury den Namen des ersten Finalisten in die Koordinaten des Nikotins. Applaus. Kleine Schreie aus dem Publikum. Hatte Landauer brachte die legendäre Erzählung von den Kirschmundfrauen, eine subtil überhöhte Szenestory. Gerade noch ernst genug. Der Text schlug ein und platzte im Hirn. Skoruppas Truppe stampfte. Der Saal klatschte laut und lange Beifall. Jetzt war klar, Skoruppa war gekommen um Kautsky zu schlachten, den Liebling der Jury. Landauer strahlte, sein Sieg war nur noch Formsache. Er stieg lässig über die Seile und sprang zu den Girls ins Parkett. Kautsky wartete, bis der Applaus verhallt war.

Dann stieg er in die Scherben. Er erzählte die Geschichte von Stewart Rushton, der mit seinem neunjährigen Sohn Adam beim Spaziergang am Strand der Irischen See von dichtem Nebel umringt wurde und bei rasch steigender Flut die Orientierung verlor. Die Strandwache von Blackpool, einen Steinwurf von den beiden entfernt, hörte ihr Schreien nicht. Rushton hatte sein Handy dabei und glaubte sich schon gerettet, als er mit seiner Frau sprach. Die alarmierte die Strandwache. Die Suche blieb erfolglos. Strandwache und Polizei nahmen telefonisch Verbindung mit den beiden auf. Adam und Stewart Rushton hörten später die Sirene eines am Strand stehenden Polizeiwagens. Sie konnten die Richtung nicht orten und schrien. Die Polizisten hörten die Schreie, aber sie mussten vor der schnellen Flut weichen. Rushton nahm seinen Sohn auf die Schulter. Dennis Laird von der Küstenwache berichtete, je mehr Zeit verging, desto verzweifelter wurden die Gespräche. Das Wasser steht seinem Vater bis zum Hals, waren Adams letzte Worte. Die Leichen wurden nur wenige Meter vom rettenden Strand entfernt gefunden. Kautsky sprach die Dialoge aus der Sicht Dennis Lairds – die Zuhörer wurden Augenzeugen des Sterbens, Kautsky redete, rief, beruhigte, fragte, stammelte, klagte, schrie, weinte, schrie. Als Kautsky aufhörte, schaute er nicht ins Publikum. Er genoss die Stille.

In diesem Moment warf Skoruppa seinen Stuhl um und stürmte nach vorn. Die Klatscher sprangen von den Sitzen auf. Skoruppa stieg in den Ring und stellte sich neben Kautsky an die Rampe. „Das hat er geklaut!“, schrie Skoruppa in den Saal. Kautsky hob langsam den Kopf aus der Stille. Dann schlug er zu und stieß Skoruppa in die Seile. Er packte ihn an den Beinen und hebelte den Körper des Bewusstlosen über das Seil, bis der Kopf über dem Parkett hing. Die Kamera blitzte. Der Saal stampfte und schrie. Kautsky wippte den Körper auf und nieder, im Schnittpunkt der Spotlights baumelte der Kopf. Als Skoruppa die Augen wieder öffnete, mit den Armen Halt suchte und schrie: „Schlagt ihn tot, den Hund!“, riss Kautsky die Beine des Feindes hoch und stieß ihn in die Tiefe. Die Klatscher stürzten nach vorn. Sie rannten die Stühle um und rissen eine Schneise ins Parkett bis zur Bühne. Die Leute sprangen von ihren Sitzen. Eine eigenartige Mischung aus Neugier und Panik bebte im Raum. Die Klatscher erreichten den Ring. Die Girls kreischten. Die Menge zappelte in den Stuhlreihen. Kautsky trat einem Klatscher, der in den Ring kletterte, auf die Hände. Die Menge riss die Stühle um, sie walzte alles nieder auf ihrem Weg nach vorn. Ein paar Girls warfen sich auf den Boden, andere fielen in Ohnmacht. Die Schreie verstummten. Kautsky schlug um sich, bis ein harter Schlag vor den Kopf ihn niederstreckte. Die Jury verteidigte die Bühne, bis die Klatscher sie über die Rampe warfen. Kamerablitze. Inzwischen hatte Skoruppa wieder das Bewusstsein erlangt und stand auf. Er hatte sich beim Sturz auf das Parkettholz den Hals gestaucht. Er lief ganz schief zur Bühne. Skoruppa hing an der Rampe und kam nicht hoch. Die Wut des Saals kam näher. Er schrie um Hilfe. Endlich sahen ihn die Klatscher und zogen ihn auf die Bühne hoch. Die Girls zogen ihm dabei die Lackhose von den Beinen. Skoruppa befahl den Rückzug. Die Klatscher rissen die roten Bühnenvorhänge herunter und warfen sie über das heranstürmende Publikum, das sich in den Netzen verfing. Sie zertrümmerten die Lautsprecher, zerschmetterten die Scheinwerfer und warfen die Elektronik mit den langen Kabeln in die wütende Menge. Kautsky lag allein vorn auf der Bühne und regte sich nicht. Skoruppa und die Klatscher rannten über die hintere Bühne und zündeten dort die schwarzen Seitenvorhänge an. Als die Flammen hochstachen, war Skoruppa mit den Klatschern verschwunden. Kautsky schlug die Augen auf, er konnte sich nicht bewegen. Er sah über die Rampe in den hellen Saal. Das Licht war unruhig. Kautsky traute seinen Augen nicht. Da lief Landauer im Saal durch den Kahlschlag nach vorn und kletterte auf die Bühne. Er riss sich das Hemd vom Leib und verlangte das Scherbengericht. Die Apokalypse stockte. Keine Bewegung im Saal. Kein Wort. Das dünne Holz der Bühne knackte laut, es rauschte der ganze Raum. Das Feuer fraß die Luft auf. Als der Ring schwarz wird, stürzt sich Landauer mit nackter Haut und offenen Augen in die spitzen Scherben.

Das war’s. Halb eins und immer noch ziemlich mild draußen. Bluetronic warf eine neue Scheibe auf den Teller. Kautsky zündete sich eine Zigarette an. „Hey“, sagte Rayl, „das war echt gut. Klasse Performance.“ Kautsky konnte das alles nicht fassen. Über der Bühne standen die Schwaden im Kreuzfeuer der Spotlights. Das ist alles keine hohe Literatur hier, dachte er, vielleicht gute Unterhaltung, grandios neurotisch. Ich bin kein Literat, aber vielleicht ein ganz guter spoken word artist. Dann schaute er ein bisschen verlegen, nahm seine Flasche Siegerwhisky und zog mit Rayl und Ko ins Atomic Café, Innenstadt, Party machen, wer weiß, vielleicht bis in den jungen Montag hinein.

 

 

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Kritische Körper von Ulrich Bergmann, Pop Verlag Ludwigsburg, 2006

Ulrich Bergmann bezeichnet den Zyklus Kritische Körper als ‚Criminal Phantasy’. Der Leser findet in diesen Kurzgeschichten eine für diesen Autor typische Montagetechnik, unterstützt durch einen imagistischen Bildgebrauch und die Verwendung extremer Bilder. Von der Figurenzeichnung bis zum Handlungsablauf ist jederzeit klar, wie in diesem Zyklus die moralischen Grenzen verlaufen. Bergmann schreibt gegen den drögen Realismus der modernen Literatur an, und in der Tat besteht das Realistische seiner Literatur darin, das Grausame in seine Texte einfließen zu lassen, wobei sie plausible Beschreibungen des Innen und des Außen seiner Figuren auch ins Fantastische verlängern. Er erklärt uns eine Welt, in der sich die Bedeutung der Wirklichkeit nicht an der Oberfläche erschließt. Der Leser muss sich selber von der Abgründigkeit überzeugen.

Weiterführend → Lesen Sie auch zum Zyklus Kritische Körper den Essay von Holger Benkel.

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