Ramsch

Am 10. Januar nahmen die Ereignisse ihren Lauf. Chicken hatte das Bootshaus des Rudervereins als Treffpunkt vorgeschlagen. Trick und Scha waren einverstanden. Heute war Freitag, morgen frei, Sonntag frei, bis Montag hatten sie sich bestimmt vom Kampf erholt. Am Montag schrieben sie die Deutsch-Klausur, Leistung. „Kein Problem“, meinte Scha, „auf Gedichte kann sich sowieso keiner vorbereiten.“ Da war der Kampf das bessere Training, dachte Trick. Benn und das gezeichnete Ich! Trick lächelte. Scha jetzt auch, er wusste immer, was Trick dachte, jedenfalls ungefähr. „Wenn ich die Finger nicht mehr bewegen kann, mach ich krank“, sagte Chicken. Erledigt. Kein Telefon. Kein Arzt. Nur der Erste-Hilfe-Kasten im Geräteraum war erlaubt. Die Tür nach außen war abgeschlossen, der Schlüssel lag in der Backröhre des Ofens, auf 250 Grad erhitzt. Wer schlapp machte, war raus aus dem Spiel. Das Casting sollte so lange dauern, bis der Sieger feststand. „Genau wie bei der Papstwahl“, sagte Chicken, „mit dem kleinen Unterschied, dass wir keine Rauchfahne hissen.“ Typisch Chicken! Chicken liebte die religiösen Anspielungen. Er glaubte an nichts, aber das ganze katholische Brimborium faszinierte ihn, weil die Welt mystisch so leer war. Der Sieger bekam Tina. „Die Sixtinische Madonna!“, meinte Scha. Trick lachte laut auf: „Je einfacher die Regeln, desto klarer der Kampf!“

Zweikampf. Schiedsrichter ist immer der Dritte. Wenn einer ausscheidet, machen die andern zwei den Kampf unter sich aus. Prinzip: Steigerung. Der Kampf um die Frau wird im Rahmen eines Skat-Turniers ausgetragen. Prinzip: Geben Hören Sagen. Der Sieger eines Spiels bestimmt die ‘Waffe’, Geben oder Sagen fängt an und bestimmt die Zahl. Zehn ist Minimum.

Runde Eins. Trick gab. Geben Hören Sagen. Chicken reizte. Chicken spielte Karo ohne 4 und gewann mit Glück. Ohne vier spielt fünf… Scha notierte das Spiel. „Was spielen wir jetzt?“ „Backpfeife!“, sagte Chicken. Trick fing an. Trick und Chicken stellten sich neben den Tisch, die vorgestellten Füße mussten sich berühren. „Zehn Mal!“, sagte Trick. Das reichte für den Anfang. Besser als Pferdeküsse, dachten sie, das ging irgendwie auf die Eier. Die Pferdeküsse waren damit erledigt, in der nächsten Runde wäre das keine Steigerung. Okay. Chicken hielt die Backe hin, Trick holte weit aus und schlug mit dem Handrücken zu. Das schmerzte. Er ließ die Hand baumeln. Chicken sah zu Boden. Die Backpfeife hatte voll gesessen. Ohrensausen. Er richtete sich auf und hob die rechte Hand zum Gegenschlag hoch über die Stirn. Die Hand schoss. Klatsch. Trick hörte erst die Luft, dann die Hand. Dann lange nichts. Die Knochen jammern, die Zähne halten. Die Haut knallrot. Wenn das so weitergeht, bricht der graue Stahl in mir, sagte sich Trick. Aber jetzt wieder er. Er hob die Hand zum Schlag. Chicken kniff die Augen zu, am liebsten auch die Ohren. Klatsch. Nach dem dritten Schlag spürten sie ihre Hände nicht mehr. Nur noch Brennen im Kopf. So ging es weiter. Schlag mit links, Schlag mit rechts, rechtes Ohr, linkes Ohr. Mir fallen noch die Zähne raus. Das Trommelfell rechts total im Eimer. Das war kein Kinderspiel, dachte Scha. Trotzdem leicht zu steigern.

Runde Zwei. Chicken gab. Geben Hören Sagen. Die drei Freunde nahmen die Karten auf, Scha reizte, Trick stieg sofort aus. Scha spielte einen Grand, brachte den leicht durch, mit drei spielt vier Schneider fünf angesagt sechs. „Was spielen wir jetzt?“ „Scherenschnitt!“, sagte Scha. Stark! Mal sehn, vielleicht machte jetzt einer schlapp. Chicken sagte ganz langsam: „Zehn.“ „Zehn was?“ „Zehn Zentimeter“, sagte Chicken, „das reicht.“ Klar reicht das, dachte Scha. Trick holte den Verbandskasten, direkt hinter dem roten Kreuz steckte die kleine Stahlschere in einer schwarzen Schlaufe. „Solingen“, las er laut. „Scharfe Klingen.“ Scha zog das Hemd aus und hielt den rechten Arm hin, den brauchte er nicht unbedingt. Die Klausur schreibe ich mit links. Das Auto lenke ich zur Not mit einer Hand. Gut. „Ohne Antiseptikum“, sagte Trick. Dann stach er die Schere in den Oberarm. „Die Haut!“, schrie Scha, „verdammt, die Haut! Du stichst mich ja ab, Mann!“ Chicken grinste. „Kannst ja aufhörn“, sagte er. Trick schaute auf. „Los! Mach weiter!“, sagte Scha. Trick schnitt zügig, während Chicken mit seinem Kalender die Blutlinie maß. Hinten, letzte Seite. Genau zehn Zentimeter. Scha schaute weg. Die Augen sahen nach innen. Tina. Meine Haut deine Haut. Mein Ding wird spitz und scharf in deinen Beinen. Die Schere schneidet deine Haut. Du blutest. Ich trockne aus. Ich trinke dich. Trick schnitt tief ins Gewebe. Aber Scha spürte nichts. Erst als Chicken den Kalender zuklappte, wusste er, es war vorbei. „So“, sagte Trick, als er den Verband wickelte, „jetzt Chicken!“ Chicken nahm den linken Arm. Die Beine waren wichtiger, Kupplung, Bremse… Scha nahm den Kalender. Er sah an den Dingen vorbei ins Leere. Was mache ich hier. Was ist das für ein Spiel. Das kann doch nicht ernst sein. Das ist kein Spiel. Das ist ganz einfach dumm. Trick zieht das hier knallhart durch. Soviel Blut! Das ist nicht normal! Das hat nichts mit Tina zu tun! Was hat das mit mir zu tun? Ich weiß, das hat etwas mit mir zu tun, aber ich weiß nicht genau was. Jetzt häng ich drin in der Scheiße. Das ist so elend, dass ich das hier – „Halt doch mal den Kalender dran!“, sagte Trick. Erledigt. Chicken ließ sich den Schmerz nicht anmerken. Als der Verband saß, kippte er um. Aber er gab natürlich nicht auf.

Runde Drei. Scha gab. Geben Hören Sagen. Trick sagte 18, Chicken war weg und Scha sagte: „Du spielst!“ „Ich schreib das Spiel ab“, sagte Trick. „Geht nicht“, sagte Chicken. Trick nahm sauer den Skat auf und spielte aus lauter Verlegenheit einen Nuller. Scha sagte eiskalt Contra, Trick verlor und warf die Karten hin. „Das gibt Ramsch!“, sagte Chicken. Scha notierte das verlorene Contra. Trick gab. „Wie immer ohne Bubenschieben?“, fragte Scha. „Klar!“, sagte Chicken. Sie nahmen die Karten auf. Chicken hatte drei Buben auf der Hand, Durchmarsch war aber nicht drin. Verdammte Scheiße das. Chicken lächelte. Trick lächelte auch. Keiner schaute auf. Ramsch war Krieg. Ramsch war das schönste Spiel, dachte Scha, aber das schönste Spiel ist immer das gefährlichste. Du denkst, du hast das total sichere Spiel in der Hand, bekommst vielleicht einen einzigen Stich, höchstens aber drei, da spielt einer Grand Hand, oder Durchmarsch, oder du kriegst die letzten drei Stiche voll mit Assen und Zehnen, dann stehste da. Scha lächelte, als er schob. Dann spielte er auf. Er hatte ein sauberes Blatt, da konnte nichts schiefgehen. Scha blieb Jungfrau. Trick und Chicken hatten am Ende gleich viel Miese. „Das Spiel zählt vierfach“, sagte Scha. „Ich habe gewonnen.“ Trick und Chicken mussten in die Arena. Prinzip Steigerung. Trick hatte noch nicht viel abbekommen, während Chicken vielleicht schon etwas angeschlagen war. Aber das konnte auch täuschen. Der Preis war die Frau. Sowas setzt Kräfte frei, von denen keiner eine Ahnung hat. „Feuerkopf!“, entschied Scha. Verdammt! Das kann leicht daneben gehen. Aber das Wort galt. „Gleichzeitig!“, sagte Chicken. „Okay“, sagte Trick. Er holte einen Kanister Benzin aus dem Bootsschuppen und goss zwei Plastikeimer voll. „Die Haare voll reintauchen, bis zur Stirn“, sagte Chicken, „bis drei zählen, dann raus aus dem Eimer, abtropfen lassen, das Ganze gleichzeitig.“ Trick nickte. „Scha zündet uns nach genau einer Minute an, dann hat sich das Benzin noch nicht verflüchtigt, genau die richtige Menge, nicht zuviel und nicht zuwenig.“ Gut. Scha fesselte Trick und Chicken die Hände auf dem Rücken, Tricks Idee.

Dann gab er das Startzeichen. Trick und Chicken tauchten unter, einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig, tauchten wieder auf und setzten sich auf zwei Stühle dicht nebeneinander. Aus den Haaren tropfte das Benzin. Die Köpfe hingen hinten über die Lehne. Dahinter stand Scha und nahm die Zeit. „Jetzt!“ Er zündete das Streichholz an und hielt das Feuer dicht an die Nacken, ganz schnell. Erst Chicken, dann Trick. Die Köpfe brannten sofort lichterloh. Bei Chicken, der volleres Haar hatte, zischte eine Stichflamme fast bis zur Decke. Scha zuckte zusammen und wich zurück. Chicken sprang vom Stuhl, rannte durch den Raum, suchte Scha, Trick schrie laut auf, fiel hart zu Boden, trampelte mit den Beinen gegen den Tisch, Chicken rammte Scha den Kopf in den Bauch, der Tisch stürzte um, die Karten flogen herunter, zuletzt die drei Buben aus dem ersten Stich im Ramsch, Scha knickte ein, Chicken wälzte den immer noch brennenden Kopf auf den Holzplanken des Bodens und stieß hart mit Trick zusammen, Kopf an Kopf, beide Körper leblos nebeneinander. Scha kroch hin. Trick atmete noch. Chicken war total kaputt, der kahle Stumpf zur Seite gefallen. Scha lag zwischen den beiden und starrte auf Tricks geschlossene Augen. Endlich bewegte Trick die Lippen. Was sagte er da? Ohne einen spielt zwei… verdammt…

 

 

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Kritische Körper von Ulrich Bergmann, Pop Verlag Ludwigsburg, 2006

Ulrich Bergmann bezeichnet den Zyklus Kritische Körper als ‚Criminal Phantasy’. Der Leser findet in diesen Kurzgeschichten eine für diesen Autor typische Montagetechnik, unterstützt durch einen imagistischen Bildgebrauch und die Verwendung extremer Bilder. Von der Figurenzeichnung bis zum Handlungsablauf ist jederzeit klar, wie in diesem Zyklus die moralischen Grenzen verlaufen. Bergmann schreibt gegen den drögen Realismus der modernen Literatur an, und in der Tat besteht das Realistische seiner Literatur darin, das Grausame in seine Texte einfließen zu lassen, wobei sie plausible Beschreibungen des Innen und des Außen seiner Figuren auch ins Fantastische verlängern. Er erklärt uns eine Welt, in der sich die Bedeutung der Wirklichkeit nicht an der Oberfläche erschließt. Der Leser muss sich selber von der Abgründigkeit überzeugen.

Weiterführend → Lesen Sie auch zum Zyklus Kritische Körper den Essay von Holger Benkel.