Der Schlingentisch

„Es ist eine eigentümliche Anlage!“, sagte der Cheftherapeut, als wir den fensterlosen Raum betraten. Er schaltete das Licht an.  „Jedenfalls denkt das jeder, wenn er sie zum ersten Mal sieht.“ Er schaute hoch zu dem Tisch, der mit seinen vier Beinen unter der Decke des kleinen Raumes hing. (Oder stand er im umgekehrten Raum?) Sein Blick war fast zärtlich. „Die Klienten lieben sie alle“, sagte er zu mir, „sie sagen manchmal, sie ist das Nirwana der Wirbel.“

Der Metalltisch war hellgrün lackiert, die Tischplatte engmaschig gegittert. Mehrere dünne, aber sehr feste Seile waren in die Löcher eingehakt, um die Schlingen zu halten, in denen der Körper nach oben gezogen wird. Unter dem Tisch stand ein einfaches Metallbett. „Das ist der Schlingentisch“, sagte er, „ein therapeutisches Hauptstück unserer Philosophie der progressiven Relaxation.“ „Mich überrascht eine so einfache Anlage“, sagte ich. „Die Geräte in den anderen Räumen machten mir Angst, aber das hier erscheint mir wie die Umkehrung der Folter.“ „Sie täuschen sich“, meinte der Therapeut lächelnd und schaute durch mich hindurch. Ich schwieg. „Ich nehme an, ich werde dort aufgehängt“, sagte ich dann. Ich zeigte nach oben. „Ja“, sagte er. „Es ist wirklich das Nirwana. In den Schlingen spüren Sie keinen Schmerz mehr.“ „Gut“, sagte ich, „ich bin vollkommen überzeugt. Am liebsten würde ich auf der Stelle mit meiner Therapie beginnen.“ Der Therapeut schaute auf die Uhr. „Es ist 20 Uhr, in einer Stunde schließen wir. Okay, ich hänge Sie auf.“

Ich zog meine Trainingssachen an. Das Zimmer war weiß gekalkt, mehrere Neonröhren an der Decke leuchteten den Raum taghell aus. Zwei Stühle, ein paar Matten, das war alles. Wenn die schwere Metalltür zuschlägt und das Licht ausgeht, dachte ich, ist das hier eine richtige Blackbox, vielleicht ersticken auch alle Töne. Ein solches Nirwana auf Zeit gefiel mir.

Der Therapeut, der sich inzwischen mit den Seilen und Schlingen befasst hatte, forderte mich nun auf, mich auf das Bett zu legen, mit dem Hintern in die breite Schlinge. Dann zog er die Schlinge an den Seilen hoch, sodass ich nur noch mit Kopf und Schulter auf dem Bett lag  –  eine kleinere Schlinge um die Waden zog die Beine dergestalt nach oben, dass die Oberschenkel fast senkrecht standen, die Unterbeine schwebten waagrecht. Das dauerte alles eine Weile. Schließlich befand ich mich in einem ungekannten Gleichgewicht.

Meine Lage hat Ähnlichkeit mit der eines Embryos, dachte ich,  und als ich das Gewirr der Seile, die mich hielten, sah, dachte ich, so sieht also meine Geburt als Marionette aus. Aber das sagte ich dem Therapeuten nicht. Der fragte mich, wie ich mich fühlte. Ich sagte: „Perfekt!“ Er lächelte und sagte dann nur noch: „Ich lasse Sie jetzt allein. Ich habe Dienstschluss. Mein Kollege wird Sie in einer halben Stunde wieder befreien.“

Als er den Raum verlassen hatte und die schwere Tür geschlossen war, fühlte ich mich immer wohler, und nach einigen Minuten wurde ich so müde, dass ich am liebsten das Licht ausgemacht hätte. Ich fühlte mich so frei von aller Last, so leicht wie nie zuvor. Ich wurde immer leichter, immer müder, ich war nun Fisch oder Vogel, das war dasselbe. Erst kam der Halbschlaf, endlich war ich in den Schlaf gefallen.

Als ich aufwachte, war es stockdunkel. Alles war still, nicht das geringste Surren zu hören. Die Maschinen in den anderen Räumen schwiegen. Die Beinbeuger, Spreizer, Nackenzüge, Brustpresser, Rückenstrecker, Bauchstrecker und Schulterndreher standen still, ebenso die Fahrradergometer, das Laufband, der Isokinetik-Adapter und der computergesteuerte Schleudersitz. Ich spürte mich nicht. Ich wusste nicht, wie spät es war. Es dauerte eine Weile, bis ich wieder wusste, wo ich war. Ich ahnte nur, es mussten Stunden vergangen sein, es war mitten in der Nacht, aber hier war es noch viel dunkler als in der Nacht.

Langsam kehrte mein Bewusstsein zurück, und mit einem Male war ich hellwach. Der Verstand ging mir auf, ich begriff meine Lage. Das Nirwana war vorbei, die Gedanken machten mich schwer, so leicht ich in der dunklen Kammer auch gebettet war.

Wurde ich bestraft? Hatte mir der Cheftherapeut meinen scherzhaften Vergleich seiner Apparate mit der Folter so übelgenommen, dass er mir eine Überdosis Nirwana verordnete? Ach was! Sein Kollege hatte mich vergessen. Oder hatte der Cheftherapeut vergessen dem Kollegen Bescheid zu sagen? – Die nächsten Gedanken galten meiner Befreiung aus der entsetzlichen Lage. Aber ich dachte nicht mehr nach, ich fühlte nur noch. Ich hätte die Schlingen mit meinen Händen, die doch frei waren, einfach lösen müssen und wäre aus der Aufhängung ausgestiegen.

Aber meine Unruhe wurde immer stärker, und auf einmal ergriff mich die Angst des Eingeschlossenen, ohnmächtige Wut und schließlich Panik. Ich wusste nicht mehr, was ich tat. Mit einem großen Schwung richtete ich mich jäh auf und griff dabei in die Schlingenseile, während meine Beine hochschleuderten. Die Seile, die die Beinschlinge hielten, wurden mitgerissen, mit dem Kopf geriet ich zwischen die Seile meiner Gesäßschlinge, die zur Schaukel geworden war. Die Seile der Beinschlinge verhedderten sich mit den anderen Seilen – so wird es gewesen sein, ich weiß nicht, was ich tat -, die Seile schnürten mir plötzlich den Hals zu! Ich konnte nicht  ins Bett zurückfallen, ich war gefesselt!

Die Schwärze der Nacht begann sich in mir auszubreiten. Ich strampelte und verrenkte mich, wie ich nur konnte, und je mehr ich mich bewegte, umso enger zog sich die neue Schlinge um meinen Hals zu. Ich sah nichts, meine Hände griffen ins Leere oder zogen die Halsschlinge noch straffer. In letzter Todesangst erstarrte ich. Mir wurde kalt, ich hielt die Seile fest im Griff. Geklammert an die Halsschlinge bewegte ich mich nicht mehr – um atmen zu können. Jetzt eine falsche Bewegung – das war unmittelbarer Mord! Der Schmerz gab mir Kraft auf meiner Todesschaukel. Ich verkrampfte schließlich so sehr, dass ich bald nichts mehr spürte, aber ich hielt mich wach, ich durfte nicht nachlassen, sonst war ich verloren.

Ich begann zu phantasieren. Mein Kopf zerschlug den gordischen Knoten! Der Raum drehte sich  um, ich fiel auf den Tisch an der Decke, es wurde hell, die Schlingen zogen sich zurück, alles fiel von mir ab, ich stand auf, ging zur Tür, aber die Klinke bewegte sich nicht, ich konnte die Tür nicht öffnen. Das Licht der Neonröhren wurde immer kälter, bis ich erfror.

Am nächsten Morgen fanden sie mich.

Sie lösten mich aus der Schlinge, kaum noch bei Bewusstsein, und legten mich auf das Bett unter dem Schlingentisch. „Sie sind frei!“, sagten sie zu mir. In meinem Gesicht war kein Zeichen der erwarteten Lösung zu entdecken. Später, viel später, als ich auf beiden Füßen stand, brach ich beim ersten Schritt zusammen und verlor das Bewusstsein.

Hatte ich das Gehen verlernt? Wähnte ich mich im Paradies? Ich weiß es nicht mehr. Im Paradies ist das Gehen bei Lebensstrafe verboten.

 

 

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Kritische Körper von Ulrich Bergmann, Pop Verlag Ludwigsburg, 2006

Ulrich Bergmann bezeichnet den Zyklus Kritische Körper als ‚Criminal Phantasy’. Der Leser findet in diesen Kurzgeschichten eine für diesen Autor typische Montagetechnik, unterstützt durch einen imagistischen Bildgebrauch und die Verwendung extremer Bilder. Von der Figurenzeichnung bis zum Handlungsablauf ist jederzeit klar, wie in diesem Zyklus die moralischen Grenzen verlaufen. Bergmann schreibt gegen den drögen Realismus der modernen Literatur an, und in der Tat besteht das Realistische seiner Literatur darin, das Grausame in seine Texte einfließen zu lassen, wobei sie plausible Beschreibungen des Innen und des Außen seiner Figuren auch ins Fantastische verlängern. Er erklärt uns eine Welt, in der sich die Bedeutung der Wirklichkeit nicht an der Oberfläche erschließt. Der Leser muss sich selber von der Abgründigkeit überzeugen.

Weiterführend → Lesen Sie auch zum Zyklus Kritische Körper den Essay von Holger Benkel.