Die Essenz eines kreativen Schaffens

 

Photo: Leonard Billeke

Nähert man sich A.J. Weigonis Schaffen, so sollte man es zuerst über das Ohr tun. Sein Denken und Schreiben machen es dem Leser und Hörer nicht leicht. Scheinbar losgelöst von lyrischen Schulen und Richtungen hält sein Werk viele Stühle besetzt. Dieser ‚VerDichter’ betreibt mit seinen Gedichten ein luzides Spiel mit der Wörtlichkeit, mit Begriffsprägungen und Begriffskonstellationen. Man kann jedes dieser Bücher für sich lesen und hören. Gedichtband für Gedichtband. Monodram und Rezitationen auf dem Hörbuch. Bei einem geeigneten Flow kann der Leser aber auch durch 500 Seiten Lyrik surfen. Und sollte unbedingt bei der Lektüre aber auch die Funkbearbeitungen des beiliegendes Hörbuchs zu Rate ziehen und über eine Partitur staunen, die kongenial vom Komponisten Tom Täger, der Regisseurin Ioona Rauschan mit den Schauspielerinnen Marina Rother und Bibiana Heimes umgesetzt wurde. Nicht zuletzt wurde mit dem Schuber an die Arte Povera angeknüpft, in dem gewöhnliche und alltäglichen Materialien verwendet wurden, schwarzer Kofferhartpappe, die für den Versandt von Filmen verwendet wird – oder die Verwendung einer DVD-Hülle als Verpackung für das Hörbuch. Außerdem verweist das Foto von Leonard Billeke auf der Hülle auf das erste Selfie der Kunstgeschichte.

Die Rezeption des Schubers liefert uns ein Bild seines Denkens und Schreibens. Der Band Wiederbeatmung belegt, es war nicht so geplant aber alles schon angelegt, was die Trilogie zum Knistern bringt. In diesem lyrischen Selbstwerdungsprozess formulieren sich die zentralen Begriffe der Moderne überraschende neu: Ähnlichkeit, Aura, Allegorie, Mythos, Erwachen und Geschichte. Diese programmatischen Begriffe sind gleichsam Grenzpfähle um eine Reihe von Dunkelstellen, sie ergeben gleichsam eine Skizze seines gesamten Schaffens, indem sie symbolisch ihren gesamten Kontext mitführen. Nie verfällt Weigoni darin bequeme Kopien anderer Lyriker zu machen, immer geht es ihm darum, sich neue Perspektiven anzueignen und den Gebrauchswert der Spreche für die eigenen Gedichte zu überprüfen. Diese frühen Gedichte sind zu verstehen als stumme Erinnerung des Aufschubs der Verfügbarkeit des Vergangenen, der Unerzählbarkeit, Transgression – und Stummheit sind Markenzeichen der BRD-Bürger. Abwegig, hier eine Verklärung der Vergangenheit zu vermuten, aber auch als Propaganda wären diese frühen Gedichte gänzlich untauglich, die Anknüpfungspunkte im historischen Gedächtnis muss der Leser selbst herstellen. Die Lebendigkeit von Weigonis Sprache ist in seinen Begriffen gegenwärtig, es sind Transformationen des Alltags. Die lyrische Erinnerung vollzieht sich in dieser ‚Rekonstitution’ als Absage an Totalitätsansprüche, Repräsentation und die Rückkehr in ein Kontinuum.

Im Gegensatz zu Kollegen, die jedes Jahr etwas Neues raushauen, lässt sich dieser Lyriker Zeit. So dauert es etwa ein Jahrzehnt, bis ein Band fertig gestellt ist. Und so dauert es 30 Jahre, bis die Trilogie, bestehend aus Letternmusik, Dichterloh und Schmauchspuren beendet wurde. Immer ging Weigonis lyrisches Schaffen mit der Reflexion über Kunst, Musik und der Sprache selbst einher, sein poetisches Konzept lautet: Materialverdichtung. In der Letternmusik dekonstruiert er das lyrische Ich. In Abgrenzung gegenüber einer Lesart von ‚Schrift‘ als gelingender Repräsentation, aber auch gegenüber Derridas Begriff der écriture und der polyvalenten différance – als den Zentralmetaphern poststrukturalistischer Theoriebildung – entfaltet Weigoni den Echoraum im Gaumentheater. Seine Buchstabenpartitur entfaltet sich sprachmusikalisch. Nicht ästhetische Kompensation, sondern ästhetische Produktivität führt zu einer diametral entgegen gesetzten Poethologie, dabei haben Verklärung und Vertröstung beim Auftakt der Trilogie nicht den Hauch einer Chance.

In Dichterloh manifestiert sich für Weigoni im Gestus der von ihm benannten hypermodernen Menschen die Produktivität der Selbstentfremdung des Subjekts in der Postmoderne und eine theatrale Form von Erkenntnis, die an das untergehende Individuum gebunden ist, an die Szene eines Verlusts. Ebenso wie das lyrische Ich entlarvt wird, ist auch das Ich eine Konstruktion und Authentizität eine Schimäre. Lyrik nur Themen hin abzufragen und sie als Symptome für Befindlichkeiten der Gesellschaft zu deuten ignoriert fundamentale Aspekte der Kunst. Weigonis Schreiben ist ein sich in die Sprache werfen, der Akt des Schreibens ist essentiell für das Überleben. Die Vergänglichkeit ist poetisch eingebunden in einen größeren Kontext und ist grundiert mit einem melancholischen Unterton. In jedem Gedicht birgt sich eine Tonspur. Diese Lyrik will gelesen und gesprochen beziehungsweise gehört werden. Die Verbindung zwischen Entstehung und Inhalt dieser Gedichte ist das Sehen, das Licht und dessen Schein, der, durch Weigonis Neologismen und Metaphern eingefangen, in Wirklichkeit verwandelt wird. Die Flammen scheinen hell im Licht der Erkenntnisse die sich unter der Lektüre machen lassen.

Die Schmauchspuren gehören zu dem intellektuell anregendsten, was dieser Lyriker hervorgebracht hat, mit einer stilistischen und poetischen Dichte, die ihresgleichen sucht. Das lässige Understatement ist Pose, diese Gedichte sind alles andere als bloße Pflichtübungen, sondern gehören zu Weigonis‘ eindrücklichsten. Ästhetisch wie politisch bleibt er oppositionell. Seine Lyrik hat wenige Berührungspunkte mit der zeitgenössischen Literatur; nicht zu ihrem Nachteil. Begriffliche Ordnungen werden lyrisch aufgebrochen, um eine Welt des Unbegriffenen aufscheinen zu lassen. Man nähert sich diesen Gedichten, indem dem Mitassozieren freien Lauf lässt. Obschon durch die Kapitel klar gegliedert findet sich keine Systematisierung, keine Formeln, die das Lesen erleichtert oder das Verstehen erklärt. Die Lektüre seiner Gedichte ist ein Vergnügen auf höchstem intellektuellem Niveau. Hier zeigt sich ein polyzentrisches Denken bei dem es keine beliebigen Perspektiven gibt. Individuen, Architekturen oder Musik sind als Knotenpunkte, als Verknüpfungen in einem historischen und geographischen Gewebe zu verstehen. Das Erkenntnisorgan ist die Sprache, eine Sprache jedoch, die in Formen gebunden ist, und deshalb als stimmig wahrgenommen wird. Diese Dichtkunst ist Ausdruck hoher Sprachkultur. Die Schmauchspuren sind eine kräftezehrende Lektüre, nur so ist diese grandiose Lyrik zu genießen.

Niemand arbeitet so unabhängig und eigensinnig wie Weigoni. Wenn dieser Lyriker verdichtet, ist er an einer Wirkung nicht interessiert, dies zeigt das Entlegene, was nach seinem Wohnungsbrand mühsam zusammengetragen wurde. Obschon aus diversen Quellen verwandtet, erweist sich der Band Parlandos als ein radikaler Gegenwartsbezug der Erinnerung im Hinblick auf die Jetztzeit, dieser bildet den Boden für eine Konjunktion von Poetik und Geschichtsphilosophie der Postmoderne, die nicht mehr geschlossene Formen, kontinuierliche Überlieferungen, sondern eher diskontinuierliche Texte konzipiert. Er gibt den Blick frei auf eine Neukonzeption von Mythen, Identitäten und Selbstverständnissen, die in schöner Klarheit Brüche des Ichs offen legen. Weigonis Randgänge an den Grenzen der Poesie zeigen eine Ästhetik des Verschwindens auf, die jedoch nicht das Verschwinden im Sinne der Auflösung in nichts markiert, sondern eine Dekomposition der Elemente, ein Zerreißen der Konstellationen praktiziert, um Gerechtigkeit für das Verdrängte, Vergessene oder Nicht-Gesehene einzuklagen. Die Souveränität, mit der Weigoni intertextuelle Bezüge herausarbeitet und jeweils in eine sinnvolle Interpretation des Gesamtwerks integriert, verdient aufgrund der Heterogenität des Materials unsere Anerkennung.

Gedichte entstehen bei Weigoni nicht im Elfenbeinturm, Lyrik  funktioniert für ihn als Ergebnis einer Kollaboration, mit einem Produzenten / Musiker, mit Schauspielerinnen, und mit einem bildenden Künstler, der für die exquisiten Cover zeichnete. Zum tieferen Verständnis des Gesamtwerks ist das Hörbuch mit den Gesamteinspielungen der Langgedichte und Rezitationen eine überaus wertvolle Ergänzung. Wie hören die Schauspielerinnen Bibiana Heimes und Marina Rother in den Hörspielbearbeitungen der Monodramen aber auch Weigoni als Rezitator mit gut artikulierter Aussprache und leichter Tongebung unter genauer Beachtung des Sprachrhythmus. Man vergleiche die Text- mit den tonalen Varianten und erfährt wie präzise dies gearbeitet ist. Dies findet seine Entsprechung in den exklusiven Drucken und dem handgearbeiteten Schuber. Wie schon in den Künstlerbüchern von Haimo Hieronymus und A.J. Weigoni geht es um die Korrespondenzverhältnisse zwischen Poesie und Bildender Kunst, das Gedicht erscheint manchmal als ein sprechendes Bild, das Bild als ein schweigendes Gedicht. Diese Werkausgabe ist eine Preziose für jedes Bücherregal.

 

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Der Schuber, Werkausgabe der sämtlichen Gedichte von A.J. Weigoni. Edition Das Labor, Mülheim 2017

Photo: Jeskos Hagen

Die fünf Gedichtbände erscheinen in einer limitierten und handsignierten Ausgabe von 100 Exemplaren. Mit dem Holzschnitt präsentiert Haimo Hieronymus eine handwerkliche Drucktechnik, er hat sie auf die jeweiligen Cover der Gedichtbände von A.J. Weigoni gestanzt hat. Bei dieser künstlerischen Gestaltung sind „Gebrauchsspuren“ geradezu Voraussetzung. Man kann den Auftrag der Farbe auf dem jeweiligen Cover direkt nachvollziehen, der Schuber selber ist genietet. Und es gibt keinen Grund diese Handarbeit zu verstecken.

Alle Exemplare sind zusammen mit dem auf vier CDs erweiterten Hörbuch in einem hochwertigen Schuber aus schwarzer Kofferhartpappe erhältlich.

Weiterführend → Mehr zur handwerklichen Verfertigung auf vordenker. Eine Würdigung des Lyrik-Schubers von A.J. Weigoni durch Jo Weiß findet sich auf kultura-extra. Lesen Sie auch Jens Pacholskys Interview: Hörbücher sind die herausgestreckte Zunge des Medienzeitalters. Einen Artikel über das akutische Œuvre,  mit den Hörspielbearbeitungen der Monodramen durch den Komponisten Tom Täger – last but not least: VerDichtung – Über das Verfertigen von Poesie, ein Essay von A.J. Weigoni in dem er dichtungstheoretisch die poetologischen Grundsätze seines Schaffens beschreibt.

Hörbproben → Probehören kann man Auszüge der Schmauchspuren, von An der Neige und des Monodrams Señora Nada in der Reihe MetaPhon.