Um die kalten Ecken

Zum 10. Todestag erinnert KUNO an Wolfgang Hilbigs zweiten Roman „Ich“

Auch wenn es am Anfang teils hakte und ziepte und man sich vor allem bei den essentiellen Textformen Wolfgang Hilbigs (Bände 1 und 2 der Ausgabe) zuweilen etwas mehr Überblick gewünscht hätte, ist es mittlerweile nicht von der Hand zu weisen – die vom S. Fischer Verlag seit 2008 betriebene Sammlung des Hilbig’schen Werks dürfte sich in der Rücksicht als die triftige Gesamtschau hoffentlich aller Texte dieses ungeheuerlichen Autors erweisen, der zu den großen mitteldeutschen Dichtern in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu zählen ist.

Die Wucht dieses Werks ist am nachvollziehbarsten in den Gedichten, den Erzählungen und Novellen anwesend; die Romane Hilbigs, in der Ausgabe die Bände 4 bis 6 belegend, mögen nicht seine ausgewiesene ‚Meisterform‘ gewesen sein, sie begründeten allerdings so etwas wie seinen endgültigen Durchbruch als Schriftsteller Ende der 1980er-Jahre: das Romandebüt „Eine Übertragung“ (1989) wird mit dem Bachmannpreis geadelt, auf der Welle dieses Ruhms entstehen die elementaren Novellen „Alte Abdeckerei“ sowie „Er, nicht ich“ und eben der „Ich“-Roman, Hilbigs erfolgreichstes Buch. 1993 erschienen, markiert „Ich“ den Scheitelpunkt der Hilbig’schen Öffentlichkeit.

Anders als die oberlehrerhaften Vorgaben des literaturbetrieblichen Roman-Wahns vermuten lassen, sind die drei Großtexte Hilbigs nicht als Krönung seines Werks zu begreifen. Eher haben sie einen Status als Beigeordnete inne, die ihren Ursprung in den kürzeren, konzentrierteren Formen haben. Poe war dem Dichter viel näher als Stendhal, und man kann vor allem Hilbigs letztem Roman „Das Provisorium“ ansehen, welche Mühe es ihn gekostet haben mag, aus der solarplexusgemäßen Distanz auszubrechen, die sich um die langen Novellen der 1980er- und 1990er-Jahren gruppiert.

So ist denn auch „Ich“ in drei Teile, ‚Schübe‘ eher, gegliedert, die sich durch den Wechsel in den Perspektiven etwa verdeutlichen. Gleichzeitig aber ist in diesem Wechsel auch ein Symptom der Zerrissenheit des Protagonisten ausgedrückt, der, quasi Doppelagent zwischen Schriftstellerei und Geheimdienstarbeit, wiederum in eine Hilbig-typische Vermischung der Realitäten gerät. Orte der Blicke und Erwägungen sind der Berliner Untergrund, die Keller und Kaschemmen der geteilten Hauptstadt, ihres Ostteils. Die Schizophrenie dieser Existenz drückt sich bereits im Titel des Werks aus: „Ich“ muss prononciert in Gänsefüßen geführt werden, weil stets auch die Widerspiegelung des Ich, das Anders-Ich um die kalten Ecken der Berliner Katakomben wehen kann. Das gespaltene Tun lappt schließlich in die Vorwehen des Umbruchs hinein, der Irrwitz sperrt sich noch gegen das Unvermeidliche, das alles Gewohnte mit sich reißt.

Der gebürtige Meuselwitzer Hilbig, dessen Mythos sich seit seinem Ableben wenigstens verdoppelte, hat, obwohl er sich nach eigener Aussage vor solcher Sammlung fürchtete, an dieser kurz vor seinem Tod noch mitprojektiert, es ist alles im Sinne Hilbigs gerichtet. Wichtig und interessant sind die Neben- und Ergänzungstexte im Anhang jedes Bands: Bei „Ich“ etwa das Exposé zum Roman, das wiederum über die ursprüngliche Verfasstheit des Stoffs als lange Novelle respektive Romanino berichtet und Einblicke in Grund-Bewegung und Arbeitsstand desselben gibt. Flankiert von einem schlanken Nachwort des Leipziger Erzählwunderkinds Clemens Meyer, zeigt sich „Werke 5“ wenn auch nicht als Kern-, so doch als Gelenk- und Kapselband der Edition.

Ein wichtiger Aspekt des „Ich“-Romans ist noch zu benennen – in ihm wird endlich der mögliche Bruch in die Ironie vorgenommen, um den Hilbig lange gerungen hat und der unter anderem als Mittel zum Aushalten der Janusgesichtigkeit der Hauptfigur dient. Ein Teil dieser Ironie färbt in das verbleibende Werk ab, das noch einmal die verlorenen Landschaften aufgreift und letztlich in Selbstabsage endet.

 

 

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André Schinkel, porträtiert von Jürgen Bauer

Weiterführend → Lesen Sie auch das KUNO-Porträt des Lyrikers André Schinkel.

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