Lügen haben wahre Beine

Die Wahrheit kommt oft im schönsten Kleid der Lüge daher, man muss sie nur ausziehen, sage ich, wie eine Frau. – Der Vergleich hinkt, mein Lieber, und entlarvt dich als unerlösbaren Chauvi, sagt Schlange. – Wieso?, sage ich. – Eine Frau definiert sich nicht über ihre nackte Haut. – Mag sein, sage ich, auf ihre Definition kommt es ja auch gar nicht an. – Du disqualifizierst dich schon wieder, sagt Schlange, ihr Männer habt die Deutungshoheit über uns Frauen schon lange verloren! – Zurück zum Thema!, sage ich. – Merkst du nicht, wie dein Bewusstsein weit hinter den Erkenntnissen von Simone de Beauvoirs zurückliegt, sagt Schlange. – Mag sein, sage ich, ich fühle mich wohl in meinem ancien regime. – Herzlichen Glückwunsch!, sagt Schlange. – Grazie, sage ich. – Zurück zum Thema, sagt Schlange, du sagst, die Wahrheit trägt das schöne Kleid der Lüge, ich sage, die Lügen zeigen die Wahrheit, weil ihr hässliches Kleid sie verrät. – Ich sehe da keinen Widerspruch, sage ich. – Erkennst du überhaupt meine Perspektive?, sagt Schlange. – Die Wahrheit bleibt immer gleich, sage ich, egal wie du sie betrachtest. – Nein, sagt Schlange, die Wahrheit ist immer abhängig vom Betrachter. – Unsinn, sage ich, die Wahrheit steht abolut fest. – Zum Beispiel, sagt Schlange, du gehst durch die Stadt und sagst zu deinem Freund: Schau mal die da, was für eine schöne Frau, und dein Freund sagt: Die findest du toll? … – Liebe Schlange, sage ich, die Schönheit einer Frau hat nichts mit der Wahrheit zu tun. – Das sag ich doch die ganze Zeit, sagt Schlange. – … Sondern mit der Wahrheit meines Urteils, sage ich. – Und das steht fest?, sagt Schlange. – Ja, sage ich, das steht fest. – Auch in zwanzig Jahren?, sagt Schlange. – Vielleicht, sage ich, es kommt schließlich auch auf die innere Schönheit an! – Du drehst und wendest deine Worte, wie du sie brauchst, sagt Schlange, und du widersprichst dir, nur um mir zu widersprechen. – Ich widerspreche mir nur, um dir nicht zu widersprechen, sage ich. – Das soll ich dir glauben?, sagt Schlange. – Ja, ich lerne von dir mit jedem Wort, das wir wechseln, sage ich. – Ich glaube dir nichts, sagt Schlange, gar nichts. – Wieso?, sage ich. – Weil du immer lügst, sagt Schlange, das ist die Wahrheit! – Ich sage dir immer die Wahrheit, sage ich, nichts als die Wahrheit. – Eben!, sagt Schlange.

 

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Schlangegeschichten von Ulrich Bergmann, Kulturnotizen 2016

In den Schlangegeschichten wird die Dialektik der Liebenden dekliniert. Ulrich Bergmann schrieb mit dieser Prosafolge eine Kritik der taktischen Vernunft, sie steht in der Tradition der Kalendergeschichten Johann Peter Hebels und zeigt die Sinnlichkeit der Unvernunft, belehrt jedoch nicht. Das Absurde und Paradoxe unseres Lebens wird in Bildern reflektiert, die uns mit ihren Schlußpointen zum Lachen bringen, das oft im Halse stecken bleibt.

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Eine Einführung in die Schlangegeschichten von Ulrich Bergmann finden Sie hier.