Orte 3. Siegburger Regen: trist mit Kriegerdenkmal.

 

1071: Erzbischof Anno (der mit dem Lied) baut Stadt und Abtei — jetzt sieht `s aus wie der Ort Überall — an einem Sonntag, den Regen besprüht… Etwas gemahnt an Kindheit, d. h. Provinz, d. h. Nachmittage, deren Ereignislosigkeit tief ist wie ein Daunenbett, das keiner je verlässt. Jedoch, in Siegburg ist Altenschwoof bei den Evangelen. Senioren wirbeln hinter der Scheibe, man hört nichts, es ist wie ein fremder Code, ein Bienentanz, Sprache, die man nicht beherrscht. Oder bin ich taub? Verstehe die Signale nicht, die bedeutungsvollen Muster?

Der Markt inmitten Zeichen leerer Tapferkeiten UNSEREN-BRAVEN-HELDEN-QUARK mit Flohmarkt, Wind und Nieselkram… Also Kaffee und Kuchen bei Leibig, biologische Bäckerei und Szenetreff — dicht gedrängt steht man: mampft und schwatzt… Nina plärrt, selbst ein Haargummi versöhnt sie nicht. “Also, `n Appenzeller kannst du nicht mit ins Bett nehmen!” Oha, warum nicht? Hat sie was gegen Schweizer? …ach, es ist eine Hunderasse… Vorschläge und Vorstellungen über Dressur folgen — das sicherste Mittel `ne ordentliche Tracht Prügel…. Einer wankt rein und brüllt: “EJ, WO KAMMANN DENN HIER IN SIECHBURG MAL WAT ESSEN? ICH RENN JETZ SCHONN DREI MAL UM DEN PLATZ, EJ!!” Der Bäcker, der offensichtlich daran schuld ist, weist ihm den Weg.

Wieder über den Markt: vergeblich sucht der Blick das Zeughaus, sieht keine Bürgerwehr, nicht Schurz, nicht Kinkel… Es ist — die vollendete Verlassenheit einer nassen Fussgängerzonen-Gegenwart: ein kleinstädtisches Antlitz zum Verwechseln, ähnlich jeglichem Stadtkern in rheinischer Nachbarschaft… Brauhofgalerie, Café Florenz, Döner Kebab… Schwarz schwellen Wolken überm Platz, das Museum zeigt Scherben, historische Produkte der “ulner” sowie heimische Nazis: Foto-Dokumentation einer Deportationsperformance — die SS-Schergen lachen… Vor den Fenstern Drähte: die stehen unter Strom gegen Tauben und neugierige Dichter, denen ein bloßer Blick aus dem dritten Stock nicht reicht… Die Tauben aber bekommen wenigstens zu fressen (alte Frau mit Brotresten am Kriegerdenkmal), der Dichter nicht. Wie gesagt: eine Stadt wie jede.

Als Mucksmäuschen sitzt ein Penner im warmen Museum — “Kritt der ooch jett?” will ein Vernissage-Besucher wissen, doch die Frauen an der Weinausgabe beschwichtigen milde: “Der hatte vorher schon genug…” Rein ins Auto, der heulende Motor… Die Abtei am Berg und der antike Rest — alles schwindet, dreht sich, schleudert, strudelt hinab in den Orkus eines Bewusstseins, das schnell vergisst und selten zurückkehrt.

 

 

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Auszug aus: Heimat & Weltall. 2 Zyklen, von Enno Stahl, Ritter, broschiert, mit Fotoarbeiten des Autors. Zum Geleit das Konzept Orte.Wege. Pflanzen.

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