Über Schiller

 

Das Große feiert sich selber. Wenn man es nennt, so ist es, als nennt man den Namen erhabener Berge und gewaltiger, über dem Meer getürmter Städte vor denen, die dort waren, und eines mehreren bedarf es nicht. König Philipp und der Großinquisitor. Das Hinausgehen Maria Stuarts zum Tode, an Leicesters Arm. Die Reden der Bauern, die sich gegen Habsburg verschwören, auf der Höhe ihrer Berge, über den Ländern, über dem Qualm der Städte Franz Moors Verzweiflung. Der Präsident im Hause des Musikus. Wallensteins Schlafengehen. Demetrius vor dem Reichstag. Groß. Wie das Herankommen und Zerschäumen einer großen Woge. Und alles, was vorher kommt, vor diesen ganz großen Momenten, von gleicher Art: wie starke Wellenschwünge. Das Nie-Auslassen einer sehr großen Kraft, ein ungeheures, rastloses Vorwärtsgehen, wie das Meer gegen den Strand. Und die gleichen Wellenschwünge überall: auch in jenen frühesten Gedichten, über die man zu lächeln pflegt, auch dort jenes, das Ehrfurcht gebietet: der arme Militärzögling, öd, dumpf, von Gott und der Welt verlassen, dürftig gehalten wie nicht der Lehrling im Handwerk, nicht der Hirte hinterm Vieh: und ruft in seiner Brust das Weltall herauf, die ewigen Mächte … »Acheronta movebo!«

Ein Anwalt und ein Konquistador. Vielleicht war den Deutschen seinerzeit der große Anwalt näher, vielleicht ist den Deutschen dieser Zeit der große erobernde Abenteurer näher. Der Anwalt nahm die Partei der Freiheit vor Königsthronen, die Partei eines Königs vor dem Thron der Freiheit. Es klingt wie herausgerissen aus dem Leben eines gefährlichen Sophisten: er aber durfte es tun, denn er war ein Mann. Der Abenteurer – ich nehme das Wort in seinem großen Sinn, und er war der größte, den die Geschichte des Geistes kennt – durchstürmte die Weltanschauungen und richtete sich in ihnen ein, wie in unterjochten Provinzen. Die Welt Kants, die Welt der Alten, die Welt des Katholizismus: er wohnte in jeder von ihnen, wie Napoleon in jeder Hauptstadt Europas residiert hat:

fremd und doch gebietend. Seine Heimat war immer woanders, sein Dasein Fortschreiten. Wenn man in ihm ist, ist man im Freien: im gewaltigen Feld, wo geistige Ströme sich kreuzen. Mit Goethe ist man zuweilen im Herzen der Dinge. Goethe und er stehen zueinander wie der Gärtner und der Schiffer. Aber in großen Nächten reckte der stille Gärtner seine Hand zu den Sternen empor und war mit ihnen vertraut wie mit den Blumen seines Gartens, und der Schiffer hatte nichts als sein mutvolles Herz und sein Schiff, mit dem die Winde spielten.

Der Bildner der Jugend. Ich weiß nicht. Es wäre denkbar, daß Männer – Männer von anderem Stoff als die Ankläger des Sokrates – ihn in ihrem Herzen den Verführer der Jugend nannten. Es heißt ein altes Wort: Que philosopher c’est apprendre à mourir. Nun, Max Piccolomini, der des Kaisers bestes Regiment in den Tod hineinreitet, weil er an der Welt irre geworden ist, er ist kein Lehrer dafür, wie man zu sterben hat. Mercutio ist schon ein besserer, Brutus noch ein besserer. (Es geht eine Linie von diesem Sterben des Mercutio zu dem, wie Gordon in Khartum starb.) Max ist auch kein Lehrer dafür, wie man zu leben hat. Und auch Mortimer nicht, auch Karl Moor nicht, auch Wallenstein nicht, wahrhaftig. Da ist Götz schon ein besserer (auch er lehnt sich auf) und der schlichte Franz Lerse und Georg, der Reiterjunge. Auch Friedrich Prinz von Homburg, trotz allem. Und Julia Capulet und unsere Hero, und Gretchen und das Käthchen von Heilbronn bessere als jene Verwirrerinnen der Gefühle: Thekla, Johanna, Berta. Und dennoch: aber man muß die Unreife haben, die Gestalten noch nicht zu sehen, nur ihren Schwung zu fühlen, oder man muß die Reife haben, die Gestalten nicht mehr zu sehen, nur das, was hinter ihnen ist, dann fühlt man ein Etwas, dem sich junge Herzen geben müssen wie die Segel dem Wind (dem Morgenwind, der sie hinaustreibt ins offene Meer und von keinem Ziel noch weiß): unbedingte Größe. Sich groß zu fassen wissen, und wäre es auf dem Schafott, wäre es im Augenblick, da man so unüberlegt und unmoralisch als möglich handelt, dies ist etwas, dies ist viel, unendlich viel. Wissen, daß man ein großer Herr ist, weil man ein Mensch ist, nichts als das, dies lehrt doch vielleicht zu leben und zu sterben. Nicht die Gestalten also, aber etwas, das in ihnen ist: mehr ihre Allüren als ihre Handlungen, die nicht immer ganz aus ihnen fließen, mehr ihr Ton als ihre Argumente. Das Fürstliche, das ihnen aufgeprägt ist und sie zu Brüdern und Schwestern macht: Könige auf ihrer Scholle diese freien Bauern, ein Heeresfürst dieser Wallenstein, ein Fürst der Ruchlosen Franz Moor, Maria eine Königin der Tränen, fürstlich auch das Hirtenmädchen, alle von königlichem Blut. Also dennoch ein Bildner des menschlichen Fühlens, nicht wie jene, die eine Welt gaben, Homer, Shakespeare, Michelangelo, Rembrandt, auch nicht wie jener, der eine Welt und sich in uns verknüpfte, Goethe, sondern indem er sich selbst hergab, nicht in den Gestalten, sondern durch die Gestalten hindurch, hinter den Gestalten: »Das Leben selber wendend an dieses Bild des Lebens.« Ein Bildner der Jugend also dennoch, ein atheniensischer, kein spartanischer: der große Schüler des Rousseau und des Euripides.

Der große Schüler des Rousseau und des Euripi des, nicht geringer als einer von ihnen. Ein Geist, der in großer Weise sich Resultate aneignete. Der die Sittlichkeit Kants, die Hingerissenheit und Fülle des Katholizismus, die Gebundenheit der Antike in sein Bauwerk hineinnahm, wie die normännischen Seekönige ihre Burgen aus antikem und sarazenischem Getrümmer aufrichteten. Der mit seinem Adlerblick nirgends Schranken sah, nicht der Zeiten, nicht der Länder. Niemand hatte weniger Ehrfurcht als er vor diesen wesenlosen Grenzen, über die unsere Seele kaum hinzufliegen wagt. Als der Tod ihn umwarf, lagen da die Entwürfe zu zehn Stücken: in einem war Rußland aufgebaut – uns das unzugänglichste, wesenhafteste aller Länder, von betäubendem Duft der Eigenart erfüllt, gleich jenem verschlossenen Garten des Hohenliedes –, in einem lebte der Malteserorden, eines war ein Gemälde des unterirdischen Paris, gezogen aus dem Pitaval, ein Gewebe aus Verbrechen, Familie, Polizei, ein antizipierter Balzac. Er meinte zu verstehen, was immer in einer Menschenbrust vorgegangen war. Und so meinte er, verstanden zu werden. Er, den alles Gewordene faszinierte. Er, von dem Goethe – und Goethe kannte ihn etwas – sagte: »Es ist ein Glück, daß Calderon erst nach seinem Tod in allgemeine Aufnahme gekommen ist. Ihm wäre er gefährlich geworden. « Ihn nennt jetzt da und dort eine Stimme »den deutschesten der Dichter«. Da und dort wird den Nationen mitgeteilt, daß er ihnen ein Fremder ist und sie ihm ewig Fremde. Er, der aus dem Herzen ihrer Geschichte seine Stoffe nahm:

das Mädchen von Orléans, Maria Stuart, Demetrius. Er, der diese Schranken so verachtete, daß er eines fremden Volkes König vor eines fremden Volkes Tribunal verteidigen wollte. Er, der einzige esprit envahisseur, den die Deutschen geboren haben, und von dessen Tiraden die Seele der unterdrückten Italiener lebte, der Ungarn, der Polen, er, den sie alle verstanden, Puschkin, Mickiewicz, Petöfi, Carlyle, er, der dem Heraufdröhnen von Napoleons Heeren so viel verdankt wie Balzac ihrem Hinabdröhnen, er, durch dessen Schaffen eine schnurgerade Linie geht von Corneille zu Victor Hugo, zu Sardou und zu Scribe (jawohl, zu Scribe), ihn gerade absperren? Gerade ihn mit Schranken umgeben? Ich weiß nicht, was ich aus solcher Politik machen soll. Jedenfalls ist es Politik des Augenblicks.

Alles in allem sind wir das einzige Volk in Europa, das ein Theater hat. Nichts, was sich mit dem der Griechen vergleichen ließe – wer ist so wenig bei Sinnen, dies anzunehmen –, auch nichts von der Lebendigkeit, der Echtheit, der Wirklichkeit des Elisabethinischen Theaters, immerhin aber etwas, das nicht ganz ohne große Linie ist, von einer gewissen Distanz gesehen. Von einer gewissen Distanz gesehen, war für Dezennien das deutsche Theater erfüllt von dem Werk Schillers. Und dann, nach einer Ohnmacht, die nicht der Tod war, sondern innere Umbildung, war es für Dezennien (die nicht vorüber sind) erfüllt von dem Werk Wagners. Man muß diese Dinge so sehen, daß sie ihre Größe zeigen und nicht ihre Niedrigkeit: sonst müßte man ersticken. Und in Größe gesehen, haben die Deutschen dort, wo jahrzehntelang Karl Moors Trotz und Maria Stuarts große Fassung ihre Wahrheit – oder die Wahrheit ihrer Seele – war, nun eine andere Wahrheit ihrer Seele: Siegfried, der sich aus den Stücken von seines Vaters Schwert singend Schwert und Schicksal schmiedet. Haben statt jenes Dranges diese Töne, statt jenes Greifens nach den Sternen dieses Wühlen in den Tiefen. Haben für Großes Größeres: denn zwischen beiden Welten liegt großes Geheimnis, liegt Schopenhauer, liegt ein Hereinlassen des Todes in die Welt, ein Nacktwerden und Großwerden der Seele, liegt jene Trunkenheit, um derentwillen die Romantiker ihr Selbst und ihre Kunst wie Perlen im Wein des Lebens zergehen ließen. Abseits aber – ich vergesse ihn nicht – steht Friedrich Hebbel. Steht und dauert, von tiefer Einsamkeit umflossen, wie eine Felseninsel, deren innerer Kern ein glühender Fruchtgarten ist: hier spricht die Blume und es spricht das Gestein, ja, der tiefste Schmerz trägt hier Früchte wie ein großer, in Nacht wurzelnder Baum. Hier landen nicht die Vielen der Deutschen, aber die Besten erreichen schwimmend diesen Strand, von Geschlecht zu Geschlecht, und es pflücken doch immer Hände diese Früchte, deren Saft die Pulse stocken und fliegen macht, und sehen doch immer Augen diese Blumen, über deren Schönheit und Seltenheit manchmal die Sinne erstarren.

[II]

Kein Deutscher ist wie er so ganz Bewegung. Sein Adjektiv ist wie in der Hast des Laufes errafft, sein Hauptwort ist der schärfste Umriß des Dinges, von oben her im Fluge gesehen, alle Gewalt seiner Seele ist beim Verbum. Sein Rhythmus ist andringend, fortreißend, weiterstrebend, sein Entwurf kühn und groß wie sein Rhythmus, und der Aufbau harmonisch über dem Entwurf wie ein Haus über dem Grundriß. Seine Gedanken jagt er zu einem Ziel, seine Betrachtung zu einem Äußersten, Höchsten, seine Gestalten zu einem großen Entschluß, einem großen Abenteuer oder einem großen Untergang. Sein Leben und sein Tod gleicht dem des Fackelläufers, der in sich verzehrt aber mit brennendem Licht ans Ziel kam, sterbend hinstürzte und so stürzend, so sterbend ein ewiges Sinnbild blieb. Etwas treibt die Deutschen immer wieder zu ihm zurück: und nun da sie Schiffe bauen, tun sie vielleicht zum erstenmal etwas, das ihn wirklich feiert; denn seine Werke gleichen am meisten von allen Dingen der Erde den großen Schiffen, deren Wucht Schönheit, und deren Dasein Bewegung ist, die immer ihr Ziel wissen, nie ins Ungewisse schweifen, Länder an Länder binden und vorwärtsstrebend den Rand der Erde adeln.

 

 

 

Hugo von Hofmannsthal 1910 auf einer Fotografie von Nicola Perscheid

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Im Alter von achtundzwanzig Jahren verschafft sich Hofmannsthal mit dem Brief des Lord Chandos ein Ventil, seinem Zweifel an der Sprache Raum zu verschaffen. Der Sprache traut er jedenfalls nicht länger zu, den Zusammenhang von Ich und Welt herstellen zu können.

 Hugo von Hofmannsthal über Gedichte.

 Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.

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