Erschriebene Unendlichkeit

Er aber steht geduldig an der Pforte des 20. Jahrhunderts und wartet lächelnd, bis sein schleichend Volk ihm nachkomme.

aus der Denkrede von Ludwig Börne

Johann Paul Friedrich Richter, als Schriftsteller Jean Paul genannt, der aus ärmlichen Verhältnissen kam und zum berühmten Mann wurde, dessen Ruhm einst den von Goethe und Schiller überschattete, der als erster das ungewisse Schicksal freien Schriftstellertums wagte, häufig um den Preis bitterster Armut, der von Frauen umschwärmte Dichter der Jünglingsgefühle, der große Satiriker und der unvergleichliche Gestalter der Lebensprobleme der kleinen Leute, ihres Alltags und ihrer Gefühlswelt, der von Herder und Wieland gefeiert wurde und über Börne und Heine bis zu George und Hesse und Jüngeren immerzu bewundernde Fürsprecher fand: Jean Paul und seine Zeit macht Günter de Bruyn in seiner kunstvollen farbigen Darstellung lebendig. Diese Jean-Paul-Biographie ist ein Kabinettstück biographischer Erzählkunst und zugleich ein literarisch aufgearbeitetes Stück Geschichte. Für de Bruyn ist Jean Paul ein unklassischer Klassiker in der Zeit der schweren Not zwischen Französischer Revolution und Restauration, umschwärmt und vielverehrt, zumal von Leserinnen.

Man hat ihn liebevoll filettiert in hundertachtzig Aphorismen auf Tafeln des zweihundert Kilometer langen Jean-Paul-Wanderwegs, welch selbiger ganze Völkerwanderungen aus Jean-Paul-Verehrern sinnvoll aktiviert, beschäftigt und lecker verköstigt, ganz im Sinne des Oberfranken Jean Paul: ‘Hier speist der Poet.’ Der Goethe-Wanderweg bei Ilmenau hingegen ist bloß schlappe achtzehn Kilometer lang.

Ulrich Holbein

Jean Pauls Romane sind in jeder Hinsicht maßlos. Wer der überbordenden Phantasie dieses Schriftstellers folgen will, muss zu allem bereit sein. Das verschroben Komische steht neben empfindsamen Gefühlserkundungen, wie sie in deutscher Sprache noch nicht zu lesen waren. Er nimmt in der deutschen Literatur eine Sonderstellung ein und hat das Lesepublikum schon immer gespalten. Bei den einen erntete er höchste Verehrung, bei anderen Kopfschütteln und Desinteresse. Er trieb die zerfließende Formlosigkeit des Romans der Romantiker auf die Spitze; August Wilhelm Schlegel nannte seine Romane Selbstgespräche, an denen er den Leser teilnehmen lasse (insofern eine Übersteigerung dessen, was Laurence Sterne im Tristram Shandy begonnen hatte). Jean Paul spielte ständig mit einer Vielzahl witziger und skurriler Einfälle; seine Werke sind geprägt von wilder Metaphorik sowie abschweifenden, teilweise labyrinthischen Handlungen. In ihnen mischte Jean Paul Reflexionen mit poetologischen Kommentaren; neben geistreicher Ironie stehen unvermittelt bittere Satire und milder Humor, neben nüchternem Realismus finden sich verklärende, oft ironisch gebrochene Idyllen, auch Gesellschaftskritik und politische Stellungnahmen sind enthalten.

Das begreif ich nicht! Der ist ja noch über Goethe, das ist was ganz Neues.

Karl Philipp Moritz 1792 nach der Lektüre von Jean Pauls Roman „Die unsichtbare Loge“

Bei einem so kapriziösen Autor ist es kaum verwunderlich, dass sein Verhältnis zu den Weimarer Klassikern Goethe und Schiller immer zwiespältig war (so sagte Schiller, Jean Paul sei ihm fremd wie einer, der aus dem Mond gefallen ist). Herder und Wieland allerdings haben ihn geschätzt und unterstützt. Obwohl er immer auf Distanz zu den die Kunst verabsolutieren wollenden Klassikern blieb und obwohl in seinem theoretischen Ansatz – etwa in seiner Vorschule der Ästhetik – deutliche Einflüsse der Romantik festzustellen sind, ist er nicht zu den Romantikern zu rechnen. Er hielt auch hier kritischen Abstand; denn bei allem Subjektivismus verabsolutierte er das Ich des Autors nicht: Er besaß, was zwischen klassischem Ernst und romantischer Ironie selten geworden war: Humor (mit dessen Wesen er sich auch als Erster eingehend auseinandersetzte). Sowohl die Aufklärung als auch die Metaphysik waren für ihn gescheitert, gleichwohl hatten sie ihren Platz in seinem Weltbild. So gelangte er zu einer Weltanschauung ohne Illusionen, verbunden mit humorvoller Resignation.

Wenn man fragt, warum ein Werk nicht vollendet worden, so ist es noch gut, wenn man nur nicht fragt, warum es angefangen. Welches Leben in der Welt sehen wir denn nicht unterbrochen? So tröste man sich damit, dass der Mensch rund herum in seiner Gegenwart nichts sieht als Knoten, – und erst hinter seinem Grabe liegen die Auflösungen; – und die ganze Weltgeschichte ist ihm ein unvollendeter Roman.

Für Jean Paul ist das fertige Werk eher uninteressant. Ihm geht es um das dauernde Schreiben, um das dauernde Weiterschreiben. Er scheint mit diesem Work in Progress verzweifelt und heiter zugleich gegen den Tod anzuschreiben. Wenn etwas nicht abgeschlossen ist, ist auch das Leben nicht zu Ende. Jean Paul bemühte sich zeitlebens um Originalität in seinen Werken. das ging bis in die Orthografie. Amüsant sind Bruyns Ausführungen zu Jean Paul und dem darin radikaleren Christian Hinrich Wolke. Das Zwischen-S bei zusammengesetzten deutschen Wörtern erfolgt völlig regellos. Beispiele sind: Nachttraum, aber Sommernachtstraum; Kaiserkrone, aber Königskrone (S. 343). Jean Paul und Wolke, wollten dies verbessern. Es ist ihnen nicht gelungen. Österreicher sagen Antwortszeiten, wir aber Antwortzeiten. Jean Paul hat sich eine richtige Schreibwerkstatt, eine Textwerkstatt eingerichtet. Mit dem Exzerpieren von theologischen, philosophischen und anderen Werken beginnt er schon als 15-Jähriger. Die Exzerpte sind bis zum Ende seines Lebens auf über 12.000 Seiten angewachsen – Die Universität Würzburg hat dieses Konvolut transkribiert und ins Internet gestellt. Jean Paul war einer der wenigen humorbeseelten Autoren der deutschen Literatur, der der Humor nicht in die Wiege gelegt worden ist, ein gottgläubiger Aufklärer, ein Weltbürger in Bayreuth.

Gerade als großer Unzeitgemäßer ist Jean Paul heute wieder zu entdecken: Ein höchst eigensinniger Wörtersammler, besessen von der Idee, sein Leben in Schrift zu verwandeln.

 

 

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Günter de Bruyns große Jean-Paul-Biographie in einer überarbeiteten Neufassung.

Günter de Bruyn, Das Leben des Jean Paul Friedrich Richter. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013, 352 Seiten, 21,99 Euro

Jean Paul, Erschriebene Unendlichkeit. Briefe. Hanser Verlag, München 2013, 783 Seiten, 34,90 Euro

Jean Paul, Ideengewimmel. Texte und Aufzeichnungen aus dem unveröffentlichten Nachlass. Andere Bibliothek, Berlin 2013, 301 Seiten, 19 Euro

Jean Paul, Das große Lesebuch. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013, 463 Seiten, 12,99 Euro

Jean Paul, Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Witz. C. H. Beck, München 2012, 90 Seiten, 12,95 Euro

Petra Kabus, Bernhard Echte (Hrsg.), Das Wort und die Freiheit. Jean-Paul-Bildbiografie. Nimbus Verlag, Wädenswil 2013, 420 Seiten, 39 Euro

Dieter Richter, Jean Paul. Eine Reise-Biographie. Transit Verlag, Berlin 2012, 144 Seiten, 16,80 Euro

Beatrix Langner, Jean Paul. Meister der zweiten Welt. Eine Biographie. C. H. Beck, München 2013, 608 Seiten, 27,95 Euro

Christian Thanhäuser und Bernhard Setzwein, Jean Paul von Adam bis Zucker. Ein Abecedarium. Haymon Verlag, Innsbruck 2013, 255 Seiten, 19,90 Euro

Helmut Pfotenhauer, Jean Paul. Das Leben als Schreiben. Hanser Verlag, München 2013, 511 Seiten, 27,90 Euro

Michael Zaremba, Jean Paul. Dichter und Philosoph. Eine Biografie. Böhlau Verlag, Köln 2012, 335 Seiten, 24,90 Euro