Das Vollkommene spiegelt sich am reinsten im Fragment

Ein Aphorismus braucht nicht wahr zu sein, aber er soll die Wahrheit überflügeln. Er muss mit einem Satz über sie hinauskommen.

 Karl Kraus.

„wer sehen will, darf fast nicht wissen, was er sieht.“ Sagt Holger Benkel.

Ja, das stimmt, ich ahne es. Aber wie stimmt es? Was muss sich biegen, um den Blick in das zu gewinnen, was wahrer ist als die Tatsachen, und das Unsichtbare, das über der Wahrheit steht, sichtbar zu machen?

Wie macht Holger Benkel das? Nimmt er quasi seine Augen aus dem Kopf und lässt sie um die Ecke biegen, indem er sie über die Mauer wirft? Oder muss sich der Leser biegen. Ja, beides. Die Sprache muss sich verbiegen wie das Hirn des Lesers, der aphoristische Satz muss über die Bühne rollen, dass sich die Bretter biegen, die Welt erkennen wir nur, indem wir sie bis zur Unkenntlichkeit verzerren, um sie kenntlich zu machen. Wenn wir uns vor lauter Lachen über die Benkel-Sätze biegen, erkennen wir die Welt, die uns verbiegt, das ist die aphoristische Erkenntnisironie. Wir müssen aus der Fassung fallen, der Fall ist immer tief und tragisch.

wunden der seele verwurzeln die kunst in der tiefe.

Und wir müssen wissen:

der eigentliche wahnsinn besteht darin, die realität für keine illusion zu halten.

Ergo wird den Aphorismen die Warnung vorausgeschickt: „vor der anwendung der hier versammelten gedanken auf das reale leben wird ausdrücklich gewarnt: der autor.“

Aphorismen sind in Wahrheit Kurzparabeln. In Wirklichkeit schreibt ja nicht der Autor, sondern der Leser die besten Geschichten, indem er weiterdenkend liest. Eigentlich entsteht der Text ja erst dann. Und es ist derjenige Autor ein guter Autor, der dem Leser den Drive zur Erzeugung seines Textes ermöglicht. So gesehen sind Schreiben und Lesen nur zwei Seiten der gleichen Medaille: Provokationstraining! Und im besten Fall läuft der Text die dialektische Treppe hoch zu seiner eigenen Metamorphose im Leser, der eigentlich, wie gesagt, ein Schreiber ist, hinauf zum nächsten Text, der einen Leser provoziert, einen Leser, der schreiben kann, und so weiter ad libitum, so lange, bis der Text sich auf der Dachterrasse, die nichts anderes ist als der Himmel selbst, auflöst in reine Wahrheit, also verschmilzt mit dem ens perfectissimum – darunter macht es ein guter Text nie – und so endlich den Dialog herstellt mit sich selbst. Denn alle Literatur und alle sagbaren Sätze sind hier Tautologien, also wahr. Und mehr bedarfs nicht.

Ich bin der Auffassung, dass Aphorismen monologisch formuliert sind. Das Dialogische haben sie wie die Steine am Wegrand. Wenn ich über sie stolpere, muss ich reagieren. Aber die Steine sprechen nicht zu mir, sie sprechen mich vielleicht an in dem Sinne, wie eine schöne Frau mich anspricht. Aber die schöne Frau redet nicht wirklich mit mir, es sei denn, sie wollte mich reizen. Ob aber reizende Aphorismen dialogisch genannt werden können, bezweifle ich.

Inwiefern die Anekdote – nach Deleuze – als eine Form des Paradoxen gelten kann, sehe ich nicht. Es sei denn, die Anekdote wird zum Aphorismus, aber dann wäre die Anekdote vom Aphorismus verschluckt. Im übrigen ist das Paradoxe kein notwendiges oder hinreichendes Kennzeichen für den Aphorismus.

Der Leser denkt über das, was er liest, nach, er denkt es weiter, oder er widerlegt es, im schlimmsten Fall versteht er es nicht. Da entstünde dann eine Art von Doppel-Monolog. Der dialogbereite Monolog-Leser kann nur seinen eigenen Monolog weiterentwickeln, indem er den gelesenen Monolog einwickelt in sein Selbstgespräch, das er aufstockt zu einem Gespräch mit einem stummen Gedanken, den er liest, und den er in sich selbst zum Reden bringt. So kann am Ende ein Aphorismus tatsächlich noch zu einem gedanklichen Dialogpartner werden, aber nur durch mich, den denkenden Leser, der dem gefundenen Gedanken Leben einhaucht wie ein Gott, der sich in der Beschäftigung mit sich selbst langweilt und so den monologischen Dialog, indem er ihn in einen dialogischen Monolog verwandelt (oder auch umgekehrt), erst erschafft.

Bestand die Modernität des Aphorismus bisher in seiner Operativität, so entspricht diese literarische Form im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit der Denkgenauigkeit der Spätmoderne. Es ist sozusagen Twitteratur.

Holger Benkels »Gedanken, die um Ecken biegen« gehen jedoch weiter als der geschriebene Text; sie sind kein Ende, sondern ein Anfang. Sie versuchen, diesen kleinen Rest an Sprache etwas aufzuhellen, und wagen es seine Ränder verstehbar zu machen. Benkels Aphorismen folgen keinem linearen und systemischen Denken, sie entfalten sich vielmehr assoziativ und labyrinthisch. … Es sind Augenblicke, in denen Probleme gelöst, Überzeugungen gebildet und Einsichten gewonnen werden – mentale oder auch seelische Ereignisse, in denen sich nicht nur das Denken, sondern auch das Leben ändern kann …“ Meint Matthias Hagedorn. Aber: Ich weiß nicht, was Hagedorn unter Modernität des Aphorismus versteht, er gibt hierzu Operativität an. Aphorismus als Instrument? Wie? Wo? Wann? Hagedorn und sein Freund Weigoni (oder umgekehrt, hier eine weitere Quelle, auf die der Autor anspielt, die Red) meinen ja eigentlich nur das Internet, eine weitere Explosion der Verbreitung des Worts nach dem Buchdruck und den Rotationsmaschinen, und werten das Geschwätz in den Blogs auf zur Zwitscheratur. Im Netz-Geschwätz geht dann der Aphorismus leicht unter im Meer der Zwitschertöne. Meine Bedenken: Denken wird da eher durch technische Verzauberung verkleinert. Der Twitterer meint, derlei erwarte der Leser im technischen Zeitalter der Reproduktion, das komme gut. Das ist der Modus (die Mode) des sprachlichen Layouts unseres spätpostmodernen Zeitgeists. Da begegnet uns the ghost of our time in der glatten Ausverkaufssprache. Weakness, thy name is Pseudo.

Ich habe lange gebraucht, um Holger Benkels Sätze gegen das Leben besser zu verstehen – als Sätze für das Leben. Viele der Gedanken, so schien mir, biegen sich selbst um die Ecke, sie stoßen ins Herz und verneinen das Leben.

einzig der tod heilt alle wunden.

Sie erinnerten mich an Hermann Burgers Tractatus logico-suicidalis, der sich kurz nach Erscheinen seines Buches umbrachte. Holger Benkel schreibt zwar mir nicht unbekannte Gedanken, so dachte ich weiter – und in poetischen Gefäßen wollte ich sie als Ausdruck eines lyrischen Ichs gelten lassen, zumal die Bilder im Gedicht automatisch Gegengewichte provozieren oder zulassen; aber in der Form von Aphorismen, die nichts anderes mehr sind als Manifeste gegen ein Leben, das sich nicht lohnt, das ging mir zu weit. Und die Apotheose des Todes, der zur Gegen- und Kampfmetapher gegen das Leben hochstilisiert wird, konnte mir nicht gefallen. Die aphoristischen Beweise gegen das Leben griffen mir zu kurz, erschienen mir nicht stichhaltig bzw. gar nicht begründet außer durch hinter den Worten stehende schwarze Gefühle. Ich hielt die Positionen von Camus und Sartre dagegen. Nous sommes condamnés à être libres. Wenn wir nicht das Kreuz tragen, sofern wir nicht an einen christlichen oder anderen Schöpfergott glauben, so haben wir immerhin den Stein zu schieben, und können durchaus lächelnd zurückblicken auf unser Werk, wenn es sich uns wieder entzieht. Dass es Armut und Kriege gibt, ist noch kein Beweis gegen das Leben. Dass wir animalisch sind, auch nicht. Und in unserem Leben gab es bisher keinen Krieg und keine zwangsläufig uns ereilende Armut. Zwar sah ich in Holger Benkels Aphorismen zum Tode mitunter (selbst-)humorige und witzige Stellen, die frei sind von suizidalen Weiterungen – aber insgesamt schien mir der in Ansätzen sogar systematisch gemeinte Gedankenbau dem Burgers ähnlich:

„1044 Ich sterbe, also bin ich.

1045 Was zu beweisen war.

1046 Finis“

(Tractatus logico-suicidalis)

Das so Gedachte war derart gegen das gerichtet ist, was ich denke, dass ich Holger Benkels Gedanken fast feindlich gegen meine stehen sah! Mir schien es nicht gerechtfertigt, aus der Lebensverneinung und Seinsablehnung, die einer für sich als gültig beansprucht, allgemeingültige Sätze zu bilden. So ein Denken wäre viel besser aufgehoben in der Ich-Prosa oder in Gedichten, wo der Leser ein lyrisches Ich findet, das mehr subjektiv als allgemeingültig gedacht werden kann. In der Poesie sind alle Denkweisen und Denkinhalte aufgehoben.

Die in Holger Benkels Todesaphorismen immer wieder gehämmerte Verurteilung der Lebensbedingungen und –verhältnisse geriet mir zum apodiktischen Nein zum Leben überhaupt. Holger Benkel wandte ein, seine Aphorismen seien nicht Ende, sondern Anfang …

Bis ich begriff: Die Aphorismen schreien – wenn nicht nach einem Paradies auf Erden, so doch nach besseren Lebensbedingungen für möglichst alle.

man kann gar nicht hoffnungslos genug sein, damit wieder authentische hoffnung entsteht.

die eigentliche geschichte besteht im ungelebten.

erst wenn wir nichts mehr wollen, wird uns vielleicht gelingen, was wir gewollt haben könnten.

geborenwerden war ein fehler, wir können uns nur selbst gebären.

Manche Aphorismen lesen sich zwar so, dass der Tod vom üblen Sein erlöst, aber das ist nur die Denkfigur, die Holger Benkel aufgreift und wiederverwendet, die Sehnsucht nach einem himmlischen Frieden, wie sie in Andreas Gryphius’ Sonetten so oft zum Ausdruck kam. Benkel dreht sie um in eine weltlich-mythische Sehnsucht unserer Zeit. Wenn unser Leben nur Leiden an Armut und Qual der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen bedeutet, dann ist die Vorstellung vom Tod, in dem das Leiden aufhört, eine rein logische Konsequenz. „zyniker sind die humanisten der zukunft.“, sagt Holger Benkel; dabei ist er gar kein Zyniker.

Die Aphorismen Holger Benkels rufen nicht zum suizidalen Eskapismus auf, sondern umgekehrt: Zur Gestaltung eines wahren Lebens. So gesehen fordern Holger Benkels kritische Sätze die Notwendigkeit der Utopie. Doch Vorsicht: „wer aus der analyse des zustands der welt geradewegs ein programm entwicklen wollte, müsste die menschheit abschaffen.“

manche träume gleichen der aus dem grab gestreckten hand des scheintoten kindes, dessen körper leben will. sie sind implosionen der ungelebten, zerlebten, abgelebten, zu früh oder zu spät oder verkehrt durchlebten, totgemachten, totgesagten, totgedachten, totgefühlten inneren, also anderen, welt, die, in seelischen abgründen gereift, utopische substanz freisetzt, und daher bedeutet kunst auch, den abgedrängten und verlorenen, abgefallenen und verworfenen, anstößigen und aussätzigen geistern im dunkel licht geben, die magisch wirken, indem sie uns in uns selbst hinabstoßen und unserer eigenen natur aussetzen. doch wiederum nicht zuviel licht, sonst zerstreuen sie sich darin oder sterben daran oder werden profan, vulgär und anmaßend.

In solchen Sätzen steckt ein didaktisches Prinzip der Kunst, es gilt auch für die Kunst des Aphorismus und die Kunst des politischen Handelns. „wer nicht subjekt der geschichte wird, hat keine eigene geschichte. … wenn der mensch nicht mehr wert wäre als seine wirklichkeit, gäbe es kaum einen grund zum überleben. … die niedergeschlagnen werden zum sediment. … wer nur betrachtet, wird bald selber zum phantom. … die erkenntnis, man könne gebote nur erfüllen, indem man sie übertritt, ist das genaue gegenteil der tatsache, dass ständig etwas übertreten muß, wer gebieten will.“ Das sind Aufforderungen, die Welt nicht so hinzunehmen, wie sie ist. Und es folgen Sätze der Kritik an den sozialen Bedingungen und Herrschaftsverhältnissen: „wo jeder egoistisch kalt und kalkulierend seinen privatinteressen folgt, entstehen neue totalitäre massen. … das endziel der privatisierung ist die leibeigenschaft. … arroganz der etablierten: sie kennen das übel und fragen, was es nutzt.“

„im chaos war noch alles ganz.“, sagt Benkel. In der Kunst wird das Nichts wieder ganz, antworte ich ihm.

Wenn ich die Toten inzwischen so gut verstehe wie Holger Benkel, dann liegt es daran, dass ich so gern lebe. Denn die Toten wollen das ja auch, und sie feiern naturgemäß die exaltiertesten Orgien, die man sich vorstellen kann. Ich verweise nur auf den Dorotheenstädtischen Friedhof, der eine Hölle der beerdigten Vernunft genannt werden kann. Ein rheinischer Dichter war es, der sie besuchte und ihr nächtliches Treiben aufschrieb. Ich bin sicher, die nächste Revolution wird von den Toten inszeniert.

Ach. Wenn Holger Benkel am Rhein aufgewachsen wäre, dann wäre er ein ganz anderer Benkeldichter geworden, ein Benkelsohn-Narrtoldy jenseits von Bürde und Börde.

Zuletzt ein Wort des Berliner Strophikers und Lyrchenschreibers Hel Toussaint (Herbert Laschet):

„Holger Benkel denkt in jahrtausenden und quantensekunden. Er überschaut kontinente und hört das knacken im tausendfüßlerbein. Und er lebt richtig: ohne mäusekino und tief unter der erde. er sagt einen satz, aus dem hätten andere einen wälzer extrahiert, hätten sie ihn zu fassen bekommen. Hat immer die stellung gehalten. Wenn wir solche nicht hätten, wären wir untergepflügt eh der smog sich wälzte im kessel.“

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Covermotiv, Uwe Albert, Technik: Aquarell / Feder

Gedanken, die um Ecken biegen von Holger Benkel–  64 Seiten.  Edition Das Labor, Bad Mülheim 2013.

Weiterführend → Große Gedanken im kleinen Format