Über die stille Wut der Wendegeneration

 

Wer in Eisenhüttenstadt an der Oder in der DDR aufgewachsen ist und den politischen Umbruch noch während der Schulzeit erlebt hat, der ist doppelt und dreifach gebeutelt geworden. Für Sabine Rennefanz, die „zu einer Generation gehört, die während der Pubertät zwischen zwei Ländern hing“, Grund genug, um mit einem Vergleich nach den Auswirkungen einer verpfuschten Jugend zu fragen. Warum ist Uwe Mundlos, Unterstützer der rechtsradikalen Szene, kriminell geworden? Warum bin ich Mitglied einer radikalen christlichen Sekte geworden und habe mich dennoch von ihr befreit? Sind wir Kinder mit einer ostdeutschen Sozialisation, in einer sozialistischen Diktatur aufgewachsen, besonders anfällig für extreme ideologische Lebensmodelle? Warum werden wir, unter schwierigen Bedingungen in eine Bundesrepublik Deutschland hineingewachsen, von den Wessis als besonders empfänglich für rechtsradikale Tendenzen abgestempelt? Findet hier nicht ein Verdrängungsprozess statt, der den meist angeblich noch nicht in der Demokratie angekommenen ehemaligen DDR-Bürgern eigene Fehlleistungen in die Schuhe schieben möchte?

Die Autorin, nach dem Studium der Politikwissenschaften seit dem Ende der 1990er Jahre als freie Journalistin  tätig, ist mit ihrer autobiografisch angereicherten „Geschichte einer Jugend zwischen Lenin und Jesus“, so der Klappentext, auf der Suche nach den Ursachen einer posttraumatischen Fehlentwicklung einer Generation. Ihre Rückkehr nach Eisenhüttenstadt aus der Distanz einer gereiften Persönlichkeit ist gekoppelt mit den Erinnerungen an ihre Kindheits- und Jugenderlebnisse in der Kaderschmiede einer erweiterten Oberschule. Diese doppelte perspektivische Ausrichtung und die kritische Bewertung dieser Erziehung gehören zu den interessanten Passagen in einem Initiationsbericht, in dem die stille Wut der „verlorenen“ Generation in nüchterne Bekenntnisse umschlägt. Sie beschreibt anschaulich ihre Lehrer und Erzieher, die auch während der politischen Umbruchsphase nur selten ihre Fehler und ihre mangelnde Kritikfähigkeit gegenüber dem Staat eingestehen; sie dringt in die Welt der Rattenfänger ein, die sich des mangelhaften Selbstbewusstseins junger Erwachsenen bedienen, um für ihre abstruse Missionstätigkeit im Baltikum und in Russland mit willigen, unerfahrenen Helfershelfern ihre Gottessuche zu kaschieren.

Zwei unterschiedliche Lebenswege? fragt sich der Leser, während Sabine Rennefanz sich ihrerseits verwundert fragt, warum sie in der Bundesrepublik angekommen ist, andere aber nicht. Sie hat sich aufgrund ihrer Beharrlichkeit durch die Wirren einer postkapitalistischen Gesellschaft gekämpft, doch warum sind Uwe Mundlos und hunderte anderer Jugendlicher auf kriminelle Abwege geraten? Ist deren Wut nicht auch aufgrund aussichtsloser Perspektiven in einer Gesellschaft entstanden, in der der homo oeconomicus zum Leitbild einer raffgierigen Gesellschaft geworden ist? In welcher Weise werden sich die „Eisenkinder“ in der bundesrepublikanischen Gesellschaft durchsetzen? Die Fragen bleiben bislang unbeantwortet. Die anschauliche Beschreibung aber, die Rennefanz mit ihrem lebendigen Bericht über ihre Sozialisation im fernen Osten der DDR liefert, bildet eine Quelle für künftige soziologische und politologische Studien. Nicht umsonst hat die Verfasserin der „Eisenkinder“ für ihren Essay „Uwe Mundlos und Ich“ im Jahre 2012 den deutschen Reporterpreis erhalten!

 

 

***

Eisenkinder. Die stille Wut der Wendegeneration von Sabine Rennefanz München (Luchterhand) 2013

Weiterführend → Zur historischen Abfolge, eine Einführung. Eine Rezension von Jo Weiß findet sich hier. Einen Essay von Regine Müller lesen Sie hier. Beim vordenker entdeckt Constanze Schmidt in diesem Roman einen Dreiklang. Auf Fixpoetry arbeitet Margretha Schnarhelt einen Vergleich zwischen A.J. Weigoni und Haruki Murakami heraus. Eine weitere Parallele zu Jahrestage von Uwe Johnson wird hier gezogen. Die Dualität des Erscheinens mit Lutz Seilers “Kruso” wird hier thematisiert. In der Neuen Rheinischen Zeitung würdigt Karl Feldkamp wie A.J. Weigoni in seinem ersten Roman den Leser zu Hochgenuss verführt.