50 Jahre ∙ Mail Art ∙ Revisited

1962

Vor 50 Jahren, im Jahr der sogenannten ›Kubakrise‹ (der 1961 die ›Schweinebuchtkrise‹ vorausgegangen war, ach, ›Schweinebucht‹, eins der unvergessenen Wörter von ›damals‹, when John F. Kennedy was my first hero), an die ich mich mittels offenbar tief in mir gespeicherter schwarzweißer bzw. grauer Fernsehbilder lebhaft erinnere, war es Ray Johnson, der die New York Correspon­dance School ins Leben rief. Ich stelle mir vor, wie er die vier Wörter sprach, und, zack, war sie da und ist bis heute geblieben, was sie immer gewesen ist: ein luftiges Gebilde mit Fenstern in alle Richtungen und der Einladung an alle Menschen, die Lust auf Kunst haben (und er meinte wohl ›Kunst‹, wenn er ›ART‹ sagte – und nicht ›Kunstbetrieb‹ und so nen Quatsch), doch einfach einmal einzutreten, um zu sehen, was so geschieht. So kam es gleichsam zur Auferweckung der Be­we­gung der internatio­nalen Mail Art, der kommunikativen Kunst der Korrespondenz, die bei den ebenfalls nach Korrespondenz süchtigen Da­daisten zwar nicht ›Mail Art‹ genannt, aber in vergleichbarer Weise eine wesentliche Rolle spielte innerhalb dessen, wie bei Dada Kunst gedacht und gelebt wurde. Robert Creeley, auf dessen Gedicht ich mit dem Bildgedicht Poem antworte, haucht dem Wort ›Mail Art‹, das vielen zunächst nicht allzuviel sagen mag, auf diese Weise poetisches Leben ein:

The Conspiracy

You send me your poems,
I’ll send you mine.

Things tend to awaken
even through random communication.

Let us suddenly
proclaim spring. And jeer

at the others,
all the others.

I will send a picture too
if you will send me one of you.

1991

kam ich zum ersten Mal bewußt mit Mail Art in Berührung: Ich hatte als Gedichte schreibender und veröffentlichender Mensch hier und dort Kon­takt zu Kleinverlegern und Künst­lern geknüpft, die sich be­reits seit Jahren auf dem weiten Feld der Mail Art tummelten. Während eines Besuchs in Berlin anläßlich der Herausgabe des Gedichtbands Mittendrin, der einige Wochen zuvor bei der Corvinus Presse erschienen war, traf ich neben Verleger (und Mail Artist) Hendrik Liersch eine ganze Reihe von Autoren und Künstlern, deren Namen in der Welt der Mail Art einen tollen Klang haben, darunter Joseph W. Huber, Karla Sachse, Anna Banana (die aus Kanada zu Besuch in Ost-Berlin war). Sie erzählten mir von den welt­wei­ten Abenteu­ern, die sie, Mauer hin, eiserner Vorhang her, in vielen Jahren vor 1989 auf dem Postweg erlebt hatten, zeigten bild- und wortreiche Do­kumentationen verschiedenster Kunst-Aktio­nen und infizierten mich offenbar mit dem Mail-Art-Virus, ohne daß das zunächst spürbare Auswirkungen hatte. Es dauerte ein Jahr, bis der gezündete Funke endlich zum Feuer explodierte und ich begann, in der Welt der Mail Art, rund um die Uhr gleichsam, berauscht und besessen aktiv zu sein, und zwölf Jahre lang konnte ich mir ein Leben ohne Mail Art nicht mehr vor­stellen. Die Sucht nach Post (und hier bin nun ich derjenige, der ›Post‹ meint, wenn er Post schreibt) im Briefkasten ist geblieben, und weh mir, wenn der Postbote, eiskalt?, am Haus vorbeifährt und keine Büchersendung oder Briefbotschaft einwirft – wobei letztere eh zur Ausnahme geworden sind. Eine Aufzeichnung Hans Benders, die in Matrix 29 zu lesen sein wird, lautet: Sie wiederholen sich: Tage ohne Briefe. »Schade«, flüstert Walter Kempowski …, und ich bin dankbar für die Erfindung der E-Mail-Programme, die mir das Versenden und den Empfang elektronischer Briefe ermöglichen, nie war die Briefkorrespondenz so groß wie heute: Mit Christel Fallenstein, die in der Hauptgasse der Poesie in Wien, also in der Nachbarschaft Friederike Mayröckers lebt, allein mehr als 600 (davon viele eben auch ›brieflang‹) in der Zeit von Januar bis Juni 2012.

Mail Art → Contact ∙ Communication ∙ Correspondance

Mail Art (mit naturgemäß sehr flacher Hierarchie, sehr offenem Verständnis von ›Qualität‹) will von Insidern, ›Machern‹, Mail Artists nie als Kunstrichtung (Ismus) im eigentlichen Sinne verstanden, sondern als künst­lerische Le­bensein­stellung gesehen werden, deren Grundpfeiler der breitgefächerte Wunsch nach Interaktion, Kom­muni­kation, Kontakt, Kollaboration, Korre­spon­denz sowie unbedingt unkommer­ziell gelebter Kunst ist. Nicht der Galerist bestimmt, wo’s langgeht, sondern der Künstler, das Werk, der Zufall, das Leben, die Kunst. Marshall McLuhans The Medium is the Message ist für die Netzkunst Mail Art naturgemäß eine Botschaft, die wesentliches Bestandteilchen des Amalgams ist, aus dem Mail Art gemacht ist.

Visuelle Poesie und Collage

Mail Art steht als international ausgerichtete Bild- und Wortkunst naturgemäß in naher Verwandtschaft zur visuellen Poesie und lyrischen Collage. Ich habe bis 1992 ausschließlich Ge­dichte mit Wörtern ver­faßt – erst durch das Eindringen in die Mail-Art-Welt wurde ich derart mit der Col­lage und Montage konfrontiert, daß visuelle Poesie wie selbstverständlich zu einer weiteren poetischen Ausdrucksweise wurde. Die lyrische Collage ergibt sich aus der Schwingung zwi­schen Rezep­tion und Pro­duktion. Kunst machen bedeu­tet oft: das Verarbeiten von Kunst und Nichtkunst: z.B. Alltagspartikeln wie Zeitungsartikeln, aus de­nen ich durch Cut-Up, Ver­frem­dung, Vergrößerung usw. plötzlich erstaunliche Botschaf­ten herauszulesen beginne. Die Tie­fenstruktur der Sprache freilegen ist – Kunst? Die Mon­tage erscheint mir hierfür das kongeniale Mittel zu sein, vorgefundenes Material zu verarbeiten (was längst kein neuer Gedanke ist, ich erinnere bloß an die Arbeitsweise eines Kurt Schwitters, der in SEHR zum Stempel der Annablumenblüte wird, oder Gottfried Benn und dessen Auffassung vom Gedicht der Zukunft). Neben Schere, Stift und Stempel nutze ich PC, Drucker, Ko­pierer und Scan­ner, um die Bildseite von Wörtern aufzudecken. Wort, Bild, Wortbild & Bildwort sind dabei die vier Ecken der Kreisquadra­tur, mit der ich beim Betrachter im Idealfall erreiche, dass er mein Collage ersehen kann – und zwar als ganzheitliches, emotional geprägtes: provokatives Er­leb­nis und ohne eine sich oftmals zwanghaft einstellende Wort- und Sinn­suche.

Fast ohne Worte

Indem ich mich an internatio­na­len Mail-Art-Projekten beteilige, versuche ich mehr und mehr Aus­drucks­formen zu finden, die ohne viele Wörter manches sagen – u.a. natür­lich auch, damit die Arbeiten überall auf der Welt rezi­piert wer­den kön­nen: gleichsam kosmo­graphisch orientierte Poesie. Mit diesen Colla­gen bzw. Montagen (oder auch Mini-Installationen wie T.RUST) – die in dem Moment, da ich sie in den Mail-Art-Zirkel einbringe zu Mail Art werden – beteilige ich mich an Mail-Art-Projekten wie Ausstellungen, Künstlermagazinen und Künstler­büchern, deren Auflage in etwa so groß ist wie die Zahl der Beiträger, die die original gestalteten Seiten in Auflagenhöhe beisteuern. Bücher und Magazine handgemacht: Karl-Friedrich Hackers el mail tao benenne ich als farbenfrohes Beispiel. Das alles, der Mail-Art-Natur gemäß, mehr oder weniger unter Ausschluß der Öffentlichkeit – wobei manches Museum, beispielsweise in London oder New York, längst über umfassende Mail-Art-Archive verfügt.

Stempel

Die mich selber am meisten verwundernde Mail-Art-Entdeckung ist der Stempel, der für mich bis 1992 – auch in der Kindheit – kei­nerlei Rolle spielte. Mittlerweile besitze ich eine ziemliche Menge selbstgemach­ter, gek­aufter, getauschter, gefundener, verfremdeter Stempel, die ich (nicht nur) in der Mail-Art-Ni­sche ›Stamp Art‹ einsetze. Einmal im Jahr er­scheint in San Fran­cisco ein Stempelmagazin  mit ausschließlich ori­ginalen Stempelar­beiten, an dem ich mich in den 90er Jahren regelmäßig beteiligt habe. Stempeln ist für mich in jener Zeit neben der  künstlerischen Herausforde­rung zu einer Art persönlicher Heil­methode gewor­den: Dabei kombi­niere ich – gleichsam ganzheitlich – das eine mit dem anderen: Zum ei­nen entwic­kelt sich ein Stempelblatt, das ich z.B. für die älteste noch existierende amerikanische Künstlerzeitschrift Art/Life 150mal mache, mit jedem Blatt zu der von mir intendierten ›vollendeten‹ Form, anderer­seits bewirkt das hundert-, nein, tausendfache Stem­peln, daß sich eine Stimmung in mir breitmacht, die ich in der auf mich oft so frustrie­rend wirkenden Außenwelt der Bor­niertheit, Hektik und Unzu­frie­denheit (der ich mich seit 2007 mehr oder weniger entziehe) nicht finden kann. Diese Stimmung läßt sich, so nebenbei betont, auch durch intensive gärtnerische Tätigkeit erreichen, von der die alten Chinesen glauben, daß sie ein ganzes Leben glücklich machen könne, und so habe ich also zwei Möglichkeiten zur Auswahl: Schreibtisch oder Garten, der in diesen Tagen Ende Juni / Anfang Juli 2012 von derart wilder Farbenpracht ist, daß es mich immerfort zu den Fenstern zieht.

Chamäleon

In den nach 2000 von einer großen Zahl von Mail Artists ge­nutz­ten Möglich­keiten via Internet habe ich nie einen Anreiz gefunden, ganz im Gegensatz zu der Lust, die ich erlebe, wenn ich von mir geschriebene Essays in Kulturnotizen oder Poetenladen vorfinde – bei denen die kommunikationslustvolle Grundhaltung beim Schreiben und Veröffentlichen viel mit den Vorstellungen von Mail Art zu tun hat. Ich suche in der Mail Art das Langsame, Mail Art is Snail Art, das Natürliche, das Einfache, beginnend mit dem Tausch von literarischen oder künstlerischen Werken und den Austausch von Wörtern, Ideen, Ideen, Ansichten. Übrigens besteht das ›Forum‹ der Mail Art besteht aus zahl­reichen kleinen Schauplätzen, in denen sich die verschiedensten künstlerisch-lite­rarischen Rich­tungen einen Schwerpunkt suchen: Es gibt Mail Artists, die ausschließlich auf einem dieser Schauplätze anzu­treffen sind. Drum wissen manche Mail Ar­tists oft nichts über die Exi­stenz an­derer Mail-Art-For­men, und zahlrei­che kommunikativ ausge­richtete Korrespondenzkünstler ahnen gar nicht, daß sie ›Mail Artists‹ sind, kennen gar nicht den Begriff Mail Art, hinter dem sich ein Cha­mäleon verbirgt, das mal blau, mal grün, mal rot, mal gelb, mal weiß ist und sich den unterschied­lichsten Anwandlungen, Bewegungen, Erregungen unterwirft.

1993

habe ich die zunächst rein mail-art-orientierte Edition YE ins Le­ben geru­fen, die zur Zeit, was die Publikation von Schachteln, Büchern oder Zeitschriften angeht, ruht: Still ruht die YE … Im Laufe der Zeit haben sich drei Reihen entwickelt: YE ist die Kunst­wun­dertüte mit originalen Arbeiten von je­weils etwa 30 bis 90 Künst­lerinnen und Künst­lern aus aller Welt, die zu den ausgeschrie­benen The­men und Bedingungen Ar­bei­ten in der angegebe­nen Auflagen­höhe einrei­chen – aus ihnen entsteht die Kunstschachtel YE (von der bislang 13 Ausgaben erschienen sind). Faltblatt ist die einmal im Jahr veröffentlichte Lyrikzeit­schrift (9 Ausgaben bis 2005), die als Faltblatt begann und von Ausgabe zu Ausgabe auf 120 Seiten anwuchs. In der Lyrikreihe sind seit 2002 Gedichtbücher mit zeitgenössischer Lyrik und Monographien wie Aus dem Hinterland. Lyrik nach 2000 erschienen (die Entwicklung aus der Welt der Mail Art heraus und hinein in die Welt der Lyrik war damit vollzogen). Schließ­lich ge­hört in die Edition YE noch das in englischer Sprache verfaßte Mail-Art-ABC (1996–2001) sowie das eine oder andere Einzelprojekt wie Black & White, eine 1999 publizierte Serie von 25 Bildwortkarten.

Feedback

Mail Artist bin ich, indem ich mich dazu erkläre (ich sende, also bin ich) und mit dem bewuß­ten Versen­den von literarischen und künstlerischen Botschaften be­ginne, beseelt von der Hoff­nung auf Feedback. (Insofern bin ich immer Mail Artist gewesen und werde es immer bleiben, auch ohne direkte Beteiligung an Aktionen, denn die Hoffnung auf Feedback und der Wunsch nach ausgeprägter Feedbackkultur sind immer präsent geblieben.) Dabei gibt es die beiden Möglichkeiten, zunächst selber zu einem Projekt ein­zuladen und sich anschließend an Pro­jekten anderer zu beteiligen oder eben umgekehrt. Mein Einstieg in die Mail Art war die Kontaktaufnahme mit zwei Herausge­bern von mail-art-orien­tierten Magazi­nen für visuelle und experimen­telle Poesie, von denen der eine Guillermo Deisler war, der bis zum frühen Tod im Jahre 1995 in der POETRY FACTORY die Künstlerzeitschrift UNI/vers(;) herausgab. Schnell flatter­ten von da an Briefe, Bilder, Zeichnungen, Karten, Collagen, News­letter bzw. Einladungen und schließlich Dokumentationen, Kataloge, Magazine, Künstlerbücher usw. ins Haus, und ich ließ es zurückflattern – und wenn ich noch so müde war.

2002

habe ich als Höhepunkt des Lebens mit Mail Art empfunden. Ich habe einen (permeablen!) Mail-Art-Kreis aufge­baut bzw. gefun­den, in dem ich Mail Art nach meiner Facon auslebe. Ich beteilige mich an Ausstellungen auf der ganzen Welt, schreibe Essays zur Mail Art in englischer Sprache, achte darauf, daß die Korrespondenz in der Mehr­zahl echt und über­schaubar bleibt und nicht zur Zettelwirtschaft wird. Ich pflege enge Kontakte zu einer Handvoll Mail Ar­tists, die über Kunst und Korrespondenz hin­ausgehen. Das sind die kom­munikativen Beziehungen, die ich als Freundschaft be­zeichnen möchte: David Dellafiora (Australien) Guido Vermeulen (Belgien), Karl-Friedrich Hacker (Itzehoe), mit dem aus der Mail-Art- die enge literarisch-künstlerische Zusammenarbeit entstand, die u.a. zu den handgeschriebenen Sammelbänden in der edition bauwagen führte, gehören dazu. Ich bin regelmäßiger Beiträger von Schachteleditionen, die ähnlich wie YE ediert sind. Natürlich bin ich stets offen für in­ter­essante Ausstellungs-Aus­schreibungen, nehme aber nur einen Bruchteil davon wahr. Mail Art ist immer der Ge­fahr ausge­setzt, zu verwässern, oberflächlich, ja, zur Un-Mail-Art zu werden. Nur der persönli­che und origi­nelle Touch eines Beitrags hilft dabei, eine wirklich schöne Aktion, eine interessante Ausstellung, ein gutes Künstlerbuch zu ma­chen. Die Beloh­nungen in Form der Doku­mentationen, Kata­loge, Magazine oder Künstler­bücher stellen neben dem mit nichts zu vergleichen­den Erlebnis des eigentlichen Wesentlichen, nämlich dem Ma­chen des Bildwortkunstwerks, feine Höhepunkte eines literarisch-künstlerisch orientierten Lebens dar, das ich mir in Zeiten, die nun, 2012, bereits 10 bis 20 Jahre zurückliegen, in MYE mail art philosophye in etwa so zusammengereimt habe:

I think therefore I am
I drink therefore I am
I feel therefore I am
I steal therefore I am
I’m blue therefore I am
I’m you therefore I am
I’m part therefore I am
I’m art therefore I am
 
 
 
 

* * *

Weiterführend →

Auf KUNO finden Sie auch den Rezensionsessay von Holger Benkel über Friederike Mayröcker. – Einen Essay über das Tun von Theo Breuer lesen Sie hier.