Die Ironie der Dinge

 

Es war lange vor dem Krieg, daß ich in den »Fragmenten« des Novalis diese Bemerkung fand:

Nach einem unglücklichen Krieg müssen Komödien geschrieben werden.

Diese Aufzeichnung in ihrer sonderbar lakonischen Form war mir ziemlich wunderlich. Heute verstehe ich sie besser. Das Element der Komödie ist die Ironie, und in der Tat ist nichts geeigneter als ein Krieg, der unglücklich ausgeht, uns die Ironie deutlich zu machen, die über allen Dingen dieser Erde waltet. Die Tragödie gibt ihrem Helden, dem Individuum, die künstliche Würde: sie macht ihn zum Halbgott und hebt ihn über die bürgerlichen Verhältnisse hinaus. Wenn sie sich von dieser unbewußten aber notwendigen Tradition nur einen halben Schritt entfernt, so gerät sie in den Bereich der Komödie: wie nahe kommt dieser schon ein Stück wie »Hamlet« – aber Hamlet selbst ist noch ein König und ein Held, wenn auch ein solcher, an dessen Substanz die Ironie der Verhältnisse und die Selbstironie schon zehren, wie die Strahlen der Sonne an einem Schneemann; und ein bürgerliches Trauerspiel ist vollends ein Unding, denn die bürgerliche Welt ist die Welt des sozial Bedingten und die Tragödie entfaltet sich am sozial Unbedingten. Aber die wirkliche Komödie setzt ihre Individuen in ein tausendfach verhäkeltes Verhältnis zur Welt, sie setzt alles in ein Verhältnis zu allem und damit alles in ein Verhältnis der Ironie. Ganz so verfährt der Krieg, der über uns alle gekommen ist, und dem wir bis heute nicht entkommen sind, ja vielleicht noch zwanzig Jahre nicht entkommen werden. Er setzt alles in ein Verhältnis zu allem, das scheinbar Große zum scheinbar Kleinen, das scheinbar Bedingende zu einem Neuen über ihm, von dem es wiederbedingt wird, das Heroische zum Mechanischen, das Pathetische zum Finanziellen, und so fort ohne Ende. Zuerst, als der Krieg anfing, wurde der Held vom Schanzarbeiter ironisiert, der, welcher aufrecht stehen bleiben und angreifen wollte, von dem, der eine Schaufel hatte und sich eingrub; zugleich wurde das Individuum bis zur Vernichtung seines Selbstgefühls ironisiert von der Masse, ja nicht nur das Individuum, auch die organisierte Masse, das Bataillon, das Regiment, das Korps, von der immer größeren und formloseren Masse; dann aber doch auch wieder die ganze kämpfende Masse, dieser furchteinflößende und klägliche Riese, von einem Etwas, von dem sie sich regiert fühlte, weitergestoßen fühlte, und für das es schwer ist, einen Namen zu finden: nennen wir es den Geist der Nationen. Aber es kam der Moment, wo diese selber, die zur Einheit symbolisierten ungeheuren Massen, ironisiert wurden von der momentanen Allmacht einzelner Individuen, welche irgendwie die Hand an den Zügen und Schrauben hatten, mit denen dieses ungefüge Ganze für den Augenblick regiert werden konnte. Im gleichen Augenblick aber standen auch schon diese selber unter sich kreuzenden Strömen der stärksten, zersetzendsten Ironie: Ironie des Kontrastes der großen ideellen Zusammenfassungen, die sie im Mund führten, gegenüber dem Wust von eigensinnigen Realitäten, mit denen sie zu ringen hatten; Ironie des Werkzeuges gegen die Hand, die das Werkzeug zu führen glaubt, Ironie des tausendfachen in der Wirklichkeit begründeten Details gegen die vorschnelle und bewußt unwahre Synthese. Zugleich aber kam der Moment, wo innerhalb dieser riesigen Gesamtheiten der Begriff der Nation ironisiert wurde durch den Begriff der sozialen Klasse. Es kam der Moment der Kohle und des Kohlenarbeiters: dieses ganze Gefüge aus scheinbar Geistigem, hinter dem sich die Materie versteckt, und scheinbar Materiellem, in das der Geist eingekerkert ist, und das wir europäische Zivilisation nennen, wurde ironisiert von einer einzigen Materie, dem in mineralischer Form aufgespeicherten Sonnenlicht, und alle sozialen Klassen und sogar die Arbeiterklasse wieder ironisiert von einer bestimmten Abteilung dieser Klasse: den Kohlenarbeitern, die zu dieser Materie, von der alles abhängt, in einem Verhältnis stehen, dem wiederum eine ungeheure Ironie innewohnt: denn sie werden von eben jener Materie, über die sie die unmittelbare Verfügung haben, in einem Verhältnis gehalten, das einer Sklaverei nicht unähnlich ist. Im Kampf aber um die Seele des Kohlenarbeiters, der auf einmal der Herr der Lage geworden war, ironisierten sich bis zum äußersten die sozialen und die nationalen Schlagworte, ja da er mehr als ein anderer Arbeiter an eine Landschaft gebunden ist, so ironisierten sich in dem Kampf um ihn sogar auch jene größten Übermächte, deren wechselseitige Ironie durch all dies Geschehen hin zeitweise aufblitzt: die Geographie und die Geschichte. Es wurde endlich zu einer unerschöpflichen Quelle der Ironie der Umstand, daß in den besiegten Ländern, das ist nahezu in halb Europa, das Geld seinen Wert verloren hat gegenüber der Ware, auch der bescheidensten Ware, dem Stück Brot oder dem Meter Leinwand; daß man für die dämonische Substanz, für die man blindlings alles herzugeben gewohnt war, weil man mit ihr alles kaufen konnte, jetzt eigentlich nichts mehr kaufen kann; daß man für weite Länderstrecken zum Tauschhandel zurückgekehrt ist, und daß im Zusammenhange dieser Veränderungen das Privilegium der geistigen Arbeit ganz geschwunden ist und ein Gymnasialdirektor ungefähr so bezahlt wird wie ein Markthelfer, ein Staatssekretär etwas niedriger als ein Chauffeur.

Mit alldem befinden wir uns ganz und gar im Element der Komödie – oder vielmehr in einem Element so allseitiger Ironie, wie keine Komödie der Welt es aufweist, es sei denn die Komödie des Aristophanes; und auch diese ist während eines für die Vaterstadt des Dichters höchst unglücklichen, ihr Schicksal besiegelnden Krieges entstanden. Daß es aber die Unterliegenden sind, denen diese ironische Macht des Geschehens aufgeht, ist ja ganz klar. Wer an das bittere Ende einer Sache gelangt ist, dem fällt die Binde von den Augen, er gewinnt einen klaren Geist und kommt hinter die Dinge, beinahe wie ein Gestorbener.

Für alle diese Dinge waren die Dichter empfindlich, die vor hundert Jahren da waren, und ganz natürlich, sie hatten die französische Umwälzung und die napoleonische Zeit durchleben müssen, so wie wir diese jetzigen Krisen durchzuleben haben. Darum machten sie aus der Ironie ein Grundelement ihrer Lebens- und Kunstgesinnung und nannten sie die »romantische Ironie«. Sie hielten es für unrecht, wenn man sich zu tief in den Schmerz versenkte, und sie meinten, daß man um einen Gegenstand ganz zu lieben auch das Lächerliche an diesem Gegenstand zu sehen wissen müsse. Sie verlangten, man solle das ganze Leben wie eine »schöne genialische Täuschung«, wie ein »herrliches Schauspiel« betrachten, und wer anders verfahre, dem fehle der Sinn für das Weltall. Sie erhoben sich, aus einer Epoche, darin, als der große Sturm vorüber war, sich wie in der unseren das Bittere mit dem Schalen mischte, zu einer so großen inneren Freiheit, daß sie uns fast wie Trunkenheit erscheinen könnte. Heute ist uns diese Verfassung begreiflicher, als sie irgendeiner der dazwischenliegenden Generationen sein konnte, und mit nachdenklichem Staunen lesen wir die Worte, die sie mit einem feurigen Federzug an das finstere sternlose Himmelsgewölbe geschrieben haben: Denn der Herr ist der Geist. Wo aber der Geist der Herr ist, da ist die Freiheit.

 

 

Hugo von Hofmannsthal 1910 auf einer Fotografie von Nicola Perscheid

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