Rätsel im Alphabet · Revisited

 

Ich habe das Buch bis 3 Uhr in der Nacht zu Ende gelesen – mit großer Spannung auf die Abfolge der Gedanken und Briefe und Freude an den poetischen Formulierungen – vor allem im Anfangsmotto und in der Schlussformel.

Der Titel „blattgold ein übern andern tag“ nennt die Kostbarkeit der Briefe und der Korrespondenzen.

Die Struktur überzeugt in allen Teilen. Die Gliederung in drei Kapitel – Briefe an p., l. und andere – bringt Ausführlichkeit und Exemplarisches ins Gleichgewicht.

Die behutsame Redaktion lässt den Brief-Dokumenten ihre Authentizität. Die Auswahl der Briefe und ihre Themen (mit der Literatur und dem Tod im Mittelpunkt) überzeugt mich. Der Umfang (124 Seiten) ist wohl bemessen, und doch: ich hätte gern noch mehr Briefe gelesen.

Der Verzicht auf den Brief-Dialog ist gut begründet. Die Anonymisierung der Namen und Orte wurde vollkommen konsequent durchgeführt, um nicht abzulenken vom Wesentlichen des Ichs, seinen Gedanken und Gefühlen.

Aus dem Vorwort:

„das versenden des ich … kein geringerer als novalis sprach davon, dass ‚der wahre brief’, also der nicht nur der reinen kommunikation dienende, ‚seiner natur nach poetisch’ sei. der wahre brief soll das gemüt des adressaten erregen und hat natürlich beim verfassen auch das gemüt des briefschreibers erregt, denn ‚poesie ist’ nach novalis ‚gemüthserregungskunst’ novalis folgend bezeichnet die autorin also die vorliegenden briefe als lettres poétiques.“

Dieses Buch ist im Moment mein Lieblingsbuch.

Wenn ich dann wieder die anderen Bücher eje winters in die Hand nehme – „liebesland“, „kunstwörter“ und „hybride texte“–, wird mich deren Poesie, die dialektisch mit dem Briefbuch korrespondiert, noch zu anderen Erkenntnissen treiben.

Die Komposition von „blattgold“ ist so reif, so verführerisch schön! Und ich meine mit der Schönheit des Worts immer auch die Wahrheit. Schmerzliche Lebensumstände sind nicht ausgeklammert und stehen in einem interessanten Spannungsverhältnis zur metaphorisch beschriebenen Natur von Welt und Umwelt.

lieber p.

hab ganz vielen dank für deinmein gedicht

die renovierungsarbeiten sind so umfangreich

daß die wohnung frühestens nach weihnachten wieder

gesäubert werden und vielleicht an umzug gedacht

werden kann

m. und ich schreinern zwar nicht

versorgen aber rund um die uhr ein zuweilen drei bis

vierköpfiges arbeitsteam mit essen und trinken

also mutter einer garküche zu sein ist auch nicht ganz

einfach wie ich nun erfahren darf

du wirst zum schriftsteller und ich kann den prozeß

mitverfolgen

so lange kennen wir uns jetzt schon

das finde ich sehr schön

ob ein schriftsteller wie ein fallensteller ist die wörter

jagend und fangend und ausstellend in der kleinen

arena des dorfzirkus

die sonne soll dir helfen ab sofort die dunklen stunden

aufzuhellen

bis bald

mit ganz vielen herzlichen wünschen

dich verschüttend

deine e.

Die Zuwendung zum Adressaten der Briefe ist immer sehr herzlich, besonders in den liebevollen Briefen an l, die den Mittelteil (Hauptteil und Achse) des Bandes bilden.

Lettres poètiques – poetische Miniaturen: Ja! Und zwar gilt das sowohl als Ganzes für die Briefe als auch für die einzelnen Aspekte innerhalb der Briefe. Oft sind die Bildgedanken wie Perlen aneinandergereiht. Motive kehren in anderen Briefen wieder, manches wiederholt sich absichtlich – wie der Himmel, der sich von uns Menschen entfernt, wenn wir ihn plündern.

Wohltuend einfach werden auch schwierigere gedankliche Zusammenhänge dargelegt. Das manchmal leicht ironische Glossar („erwähnte namen“) am Schluss des Buchs liest sich wie eine Liste der Themen und ist in jedem Fall hilfreich. Dass aaa ein gläserner Engel ist (eigentlich heißen nur die Batterien, die den Engel zum Leuchten bringen, AAA), war mir unbekannt. Samuel Joseph Agnon, Mark Rosenthal und Asher Reich kannte ich auch nicht. Schon gar nicht „egon“ als Bezeichnung für einen PC. George W. Bush wird lediglich als „Politiker“ charakterisiert… Wunderbar das Wort Zimzum: „nach gershom scholem der raum, der entsteht wenn gott sich zusammenzieht, um platz für die schöpfung zu machen“…

Die 10 Lichtbilder von Steffen Kluge phosphoreszieren auf Doppelseiten zwischen den Briefen.

Alles in allem ein großartiges, ein spannendes Buch!

Ja, Wort und Leben, signum und signatum sind hier mit Blattgold überzogen und leuchten!

 

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 blattgold ein übern andern tag. Von eje winter: lettres poétiques 1995 – 2002. mit 10 lichtbildern von steffen kluge. POP-Verlag, Ludwigsburg 2010

Weiterführend

Eine Würdigung von Ulrich Bergmann finden Sie hier.