Neptuns Tintenfass

 

Die Sonette bestechen durch die Freiheit, die sie sich formal nehmen, und doch sind sie zugleich streng, was das sprachliche Gleichmaß jenseits metrischer Silbengenauigkeit angeht. Und das ist das Wichtigste. Die Verse, die Worte, die Sätze, sie fließen, und ich liebe die Schönheit solcher Melancholie wie in Sepia, I.  Diese Sprache rückt Sie in die Nähe von Durs Grünbein, denke ich, und ich meine das im guten Sinne. Bei Grünbein stört mich das Zuviel an Bildung, Ihre Verse wirken authentischer auf mich.

In Sepia, II, entwickeln Sie die Melancholie deutlicher noch ins sanft Humorvolle, Selbstironische, und das ergibt eine wunderbare Stimmung: Das Menschliche, Allzumenschliche reibt sich nun an einer subtilen, feingliedrigen Sprache, oder umgekehrt: Diese differenzierte Sprache arbeitet sich ab an der doppelten Weltsorge: am Grauen der Welt und den höchsten Niederungen des Privaten… Die Bilder, die den erotischen Bezirk streifen, gefallen mir sehr als eine Art Psychologie des Körperlichen.

Vom Reime befreit, vom Eis der Form gewärmt, in wohltuenden Langversen, in denen Sie die Gedanken genauer, unbeengter ausformulieren können – so reden Sie von der Liebe in nicht eben unkomplizierten Verhältnissen, die nur angedeutet sind: Hört mich die Geliebte? (Sepia, III)

Die Tinte weist vielleicht hin auf das Schreibenwollenundmüssen des Liebenden, der mit Worten durch die Welt tanzt, nicht aber mit dem ganzen Ich. In der Sepia-Welt, im Meer der Worte und Gedanken, lebt dieses Ich wie Neptun, ich sehe die Bilder Arnold Böcklins vor mir. Aber diese Welt im Meere steht dem Land, auf das die Sonne unerbittlich scheint und das sie auszehrt, gegenüber. Ich denke auch an die Meerjungfrau in Andersons Märchen… Die gezeichnete Tinte ans Land tragen, wo sie lebt in den Büchern, aber dann wieder zurück ins flüssige Salz.

Sepia IV deute ich als ein Zwiegespräch, das Neptun mit sich selbst führt. Die Sepia ist stärker als jede andere Liebe, sie verzeiht nicht, sie bindet stärker. Und doch zieht die terrestrische Liebe zuweilen wilder an: „Meinen Leib hätte ich an die Tintenfische verkauft |  Für ein paar Blicke von dir“ (Sepia V), aber die Geliebte ist fern, kaum mehr zu erreichen. Liebe ist  Harakiri, auch die nautische Liebe, die Liebe zur Tinte, zu den Worten, Gedanken und Geschichten, wird zur Guillotine des Selbst, das sich verrät an die Poesie der Gefühle und des Körpers, so oder so, es geht nicht anders.

Der Verdacht, die unerreichbare Geliebte sei letztlich die Dichtkunst, kommt mir beim Lesen von Sepia, VI. Aber das ist nur ein flüchtiger Gedanke. Zerrissenheit in dir selbst brennt, Neptun, du birgst Nord und Süd, Welt und Geist, Sinnlichkeit und Logik, Wort und Wirklichkeit in tausend Spannungen. Du kommst nicht heraus aus diesen dialektischen Verzwirbelungen, kannst und darfst dich nicht entscheiden. Du bist ein Gott des Meers, der Worte, an Land kippst du um, du erreichst nie das terrestrische Paradies der Liebe. 

Sanft ironisch klingt der Zyklus aus: Der Sehnsucht und der Hoffnung, mit der Geliebten wieder zusammen zu sein, steht die gefühlte Gewissheit gegenüber: Abschied vom gelebten Paradies, das sublimiert wird in der Poesie der neuen Verse.

 

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Sepia. Gedichte von André Schinkel mit Stichen von Inka Grebner, Bettina Haller, Karl-Georg Hirsch, Irina Rössler, Bettina Rulf, Volker Wendt, Newena Wendt-Jontschewa, Wolfgang Würfel

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