Wohin sollte er nun gehen?

 

Er stand betrunken und unschlüssig, ja mehr noch: ratlos, auf dem Gehsteig in der Spiegelgasse. Es war noch zu früh am Abend, immer früher erreichte er ja diesen ausweglosen Zustand; auch dadurch, daß er zu einer immer früheren Tageszeit diesen Weinkeller und auch andere Elendsquartiere, wie er solche Stätten für sich bezeichnete, aufsuchte, und somit zu einem immer früheren Tageszeitpunkt betrunken war. Wenn die anderen erst kamen, von der Arbeit, nach Geschäftsschluß, um ihren geselligen Abendtrunk zu nehmen, dann war er schon in einem Zustand, daß er aus dem Lokal gewiesen wurde. Was ihm jetzt blieb, das waren die Nachtasyle, wie er solche, meist heruntergekommene Gaststätten nannte, in die man ihn auch in diesem betrunkenen Zustand hineinließ und wo er, gegen Vorauszahlung, noch etwas zu trinken bekam, vorausgesetzt, daß er sich in irgend einen unauffälligen Winkel, meist irgendwo hinten im Lokal, verkroch. Also blieb ihm nur das Café Alt-Wien in der Bäckerstraße. Dort kannte man ihn auch noch von früher. Am Anfang wurde dieses Lokal noch von Frau Reichmann geführt, der früher das als Anarchistenlokal verrufene Café Sport gehört hatte. Dieses war dann, einerseits wegen Umbau des Hauses, wegen Neuübernahme des Cafés, wahrscheinlich aber aufgrund von Interventionen seitens der Anrainer und der Bezirksverwaltung wegen der vielen Exzesse, die später auch durch die aufkommende Drogen-szene in Wien ins Kriminelle gesteigert worden waren, geschlossen worden. Das alles war lange her, mehr als ein Vierteljahrhundert, mehr als seine halbe Lebenszeit. Damals war alles anders gewesen: Wien, die Szene, die Künstler, die Intellektuellen, ja sogar die Zuhälter und die Halbwelt; natürlich auch er. Die Frau Reichmann hatte noch ein paar Jahre das Café Alt-Wien geführt, das heißt, sie saß, wie im Café Sport, auf einem Sessel hinter einem Tischchen und überwachte das ganze Geschehen, mehr tat sie ja nicht, außer daß sie es auch war, die, wenn sie meinte, es ginge nicht mehr anders, die Polizei rief; zum Schaden der Gäste, aber auch zu ihrem eigenen; das hatte sie nie begriffen, dann vielleicht doch, aber zu spät. Irgendwann war sie dann nicht mehr da, sie war gestorben; so wie viele andere auch, aus der Szene des Café Sport, aus dem gemeinsamen Kreis von damals. Einige, darunter begabte Dichter, hatten sich umgebracht; andere, wie zum Beispiel ein damals schon bekannter Maler, waren verunglückt; andere wiederum hatten sich, wie man so sagt, zu Tode gesoffen, so wie Gabor, der Ungar, sein damaliger Freund und Mitbewohner. Viele waren ins Ausland gegangen, nach Berlin, nach Amerika, sonstwohin. Der Rebellendichter Hermann Schürrer, der jahrelang als Unterstandsloser in Kohlenkellern oder auf Parkbänken oder in sonst einem Unterschlupf gehaust hatte, wurde, nachdem man ihn dreimal ins Irrenhaus und auch immer wieder ins Gefängnis gesteckt hatte, schließlich, als er dann endlich eine kleine Wohnung von der Stadtverwaltung bekommen hatte, eben in dieser an seinem Schreibtisch tot aufgefunden. Zuvor hatte man in schon einmal völlig leblos aus dem WC im Café Alt-Wien herausgeholt und zur Wiederbelebung in eine Anstalt eingeliefert. Alles gescheiterte Existenzen, dachte er. Aber auch: Ja, so geht diese Stadt mit ihren Künstlern, die nicht zum Establishment gehören, um; seit jeher. Diese Politiker und Kulturmacher lieben nur die Speichellecker, die Angepaßten, die Hohlköpfe und Schwätzer; ihre Ebenbilder eben. Alles andere möchten sie am liebsten vernichten, zum Verschwinden bringen. Sie kennen nichts und wissen nichts. Sie wissen nichts von der Tragik zum Beispiel des persönlichen Lebensschicksales  von Joseph Roth. Sie gehen in die Kapuzinergruft, aber sie lesen nicht das gleichnamige Buch von Joseph Roth. Und wenn, dann begreifen sie es nur als historischen Roman. Am liebsten sehen sie so etwas sowieso als Film, am besten im Fernsehen, mit dem Kaugebäck im Mund. In welch einer Stadt lebe ich denn eigentlich, dachte er. Warum habe ich hier mein Leben vergeudet? Wäre es woanders besser gewesen? Aber wo woanders? Wohin hätte er denn gehen können, außer ins Ausland, um diesem zynischen, selbstgefälligen, eitlen, snobistischen, aber oft so aggressiven Neobiedermeiertum und dieser Pseudokulturkitschwelt, dieser „Seitenblicke“-Welt zu entkommen. Er verwendete diese Wortschöpfung von ihm, die er nach einer gleichnamigen Gesellschaftsklatsch-Serie
im österreichischen Fernsehen, in der die Schein- und Schickimickiwelt der sogenannten High Society in eitler Selbstdarstellung sich produzierte, kreiert hatte. Alles war ein einziger Sumpf, alles war integrierbar, alles kommentierbar, alles, auch der größte Dreck, verwertbar; so waren die Medien, so war das sogenannte Kulturleben, so war die Öffentlichkeit, die Gesellschaft in dieser Stadt, in diesem Land. Alles war nur eine hohle Scheinwelt. Die Medien waren der Spiegel, in dem sich alles, verzerrt und bis zur Lächerlichkeit deformiert, spiegelte. Von Geist und Niveau, von Strenge und Ernst, von Außergewöhnlichkeit keine Spur. Entwürdigung überall. Und dies, ohne daß es jemanden störte oder jemandem wehtat. Niemand schrie mehr auf.

 

 

 

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ausgestoßen, von Peter Paul Wiplinger. Arovell Verlag, Gosau, 2006

Wiplinger Peter Paul 2013, Photo: Margit Hahn

Weiterführend → KUNO schätzt dieses Geflecht aus Perspektiven und Eindrücken. Weitere Auskünfte gibt der Autor im Epilog zu den Schriftstellerbegegnungen.