Von Sekretärinnen und Taxifahrern

 

An einem von Starkregen bedrohten Nachmittag treffe ich im Parque Centroamérica im Herzen Quetzaltenangos, das bis zu 2400 Meter hoch auf den Sedimenten eines ehemaligen Bergsees liegt und nach seinem alten Mayanamen Xelajú meist Xela (sprich: Schela) genannt wird, auf Alberto Arzú, einen Dichter, der auf seiner Facebook-Seite (dort als Gato Azul, deutsch: Blaue Katze unterwegs) in hohem Takt von kulturellen und politischen Begebenheiten in Xela und ganz Guatemala berichtet sowie eine ausgiebige, durchnummerierte Serie mit lyrischen Aforismen betreibt. Alberto ist leicht auszumachen: mit seinen Rastalocken und der Kapitänsbinde, die er über einer mit Stickern benähten Weste trägt, fällt er in Xela optisch aus dem Rahmen. Noch bevor er mich ausgiebig durch die innerstädtischen Zonen führt, in denen er jeder Straße, beinahe jedem Haus eine Geschichte zuzuordnen weiß, drückt er mir zwei seiner Gedichtbände in die Hand.

Der erste, Taxi ¡Crush!, 2012 bei Chuleta de Cerdo Editorial erschienen, lotst die Leserschaft in ein anfahrendes Taxi, dessen namenloser Chauffeur über die Schulter von seinen Erlebnissen und Gedankengängen erzählt. Sämtliche Gedichte sind auf eine Buchseitenlänge geschnitten. In ihren Erzählweisen erinnern sie an Popsongs, die wiederum tatsächlich in vielen der Gedichte als Soundtrack aus dem ständig eingeschalteten Autoradio tönen: mal läuft nach vorne gehender Indie-Trashbeat (The Go-Go’s), dann wieder sehnsüchtige, melancholische Melodien (Feargal Sharkey, John Lennon) – vornehmlich Stücke aus den Achtzigerjahren. Im Popmusik-Kontext verweilend, ließe sich der Band als Konzeptalbum beschreiben: der Taxi fahrende Protagonist frißt Straßenkilometer wie flüchtige Begegnungen und durchlebt eine zunehmend emotionale Reise: von Anteilnahme und Verliebtheit über Frustration hin zu Todessehnsucht.

Auch wenn die Kulisse im Eingangsmotto als die „irgendeiner Stadt“ zu „irgendeiner Stunde“ vorgestellt wird, ergeben sich Hinweise auf Quetzaltenango, die Stadt Guatemalas, die der Dichter Arzú von allen am meisten schätzt. Die kulturellen Entfaltungsmöglichkeiten seien in Xela größer, der Zusammenhalt in der Szene besser als in der Hauptstadt. Seit 2003 findet regelmäßig ein großes internationales Poesiefestival statt. Hier betreibt er seinen Verlag Chuleta de Cerdo (Schweinekotelett), dessen Logo die kartografische Gestalt Guatemalas mit der eines Koteletts vereint. Der Verlag wurde aus der Cartonera-Idee geboren, seine Bände erinnern in ihrer Machart an die der Kölner Parasitenpresse.

Taxi ¡Crush! bewegt sich durch einen Alltag unterhalb des öffentlichen Interesses, voll kleiner, einfacher, kaum jemals hoffnungsfroher Geschichten mit verheulten Mädchen, gehetzten Männern, traurigen Büroangestellten, katastrofalen Heimniederlagen des lokalen Fußballteams, geheimnisvollen Rückbankschönheiten und dankbaren Unfällen am Wegesrand, die unerträgliche Monologe von Fahrgästen beenden helfen. Der Regen (der in Xela apokalyptische Ausmaße anzunehmen vermag) begleitet die Touren, die in ihrer täglichen Wiederholung die schönen Erinnerungen des Chauffeurs überkommen. Zunehmend empfindet er sich als Gefangener seiner Position, Desillusionierung und Daseinsekel brechen sich Bahn. Umschwirrt von gelben Taximolekülen endet der letzte Arbeitstag in einer Blutlache aus Traum und Wirklichkeit.

Die Zahlenfolge im Titel des zweiten Bandes, 10-14, weist auf eine typische Block-Hausnummer in Guatemala-Stadt – und bezeichnet hier ein fiktives Bürogebäude in deren gehobener Zona 14. Von Angestellten, Angehörigen der Mittelklasse, deren Arbeit auf die Anschaffung des neuen Volkswagens abzielt, auf gesellschaftlichen Aufstieg innerhalb eines materiell, am Wert bestimmter Markenprodukte bemessenen Codesystems, handeln die Gedichte des ersten Teils, die optisch aus Büroeinheiten bestehenden Hochhäusern gleichen. Selbst die Schmerzkiller nach Büroschluß („ein schönes kühles Budweiser“) tragen Markennamen.

Anders als der Taxifahrer aus Taxi ¡Crush!, der die Musik hinnimmt, die das Radio ihm anbietet, unterscheiden die Büroangestellten bei der Arbeitsplatzbeschallung zwischen gutem und schlechtem Geschmack, „Reggaeton-Scheiße“ und „Bands mit Klasse“. Arzú zeichnet den Büromenschen als Spielball seines Statusdenkens, seiner von ungenannten Vordenkern übernommenen Klassifikationen, die ihm erlauben, den eigenen Mittelklasse-Status als gehoben, zumindest als über minderwertigere Geschmäcker, Einstellungen, Berufe erhaben betrachten zu dürfen.

Gedichttitel wie „Sie haben einen Blocker für die sozialen Netzwerke in den Bürocomputern installiert“ halten, was sie versprechen: die Texte analysieren zeitgenössische Arbeitsbedingungen in Versen, es geht um Angestelltenrabatte, Arbeitsgeräusche und den Blick aus der siebten Etage über die Stadt. Wird Facebook abgeschaltet, taucht der Firmenpsychologe auf und hilft zweifelnden Mitarbeitern zu Liebenswürdigkeit und Effizienz zurückzufinden. Denn die meisten Angestellten lieben ihre Arbeit nicht gerade: ihnen ist bewußt, daß sie Geldmengen generieren, die maßgeblich von wenigen anderen abgeschöpft werden. Ein anderer Titel: „Die Wanduhren in diesen Büros sind riesig, damit sie uns an den Lauf der Zeit erinnern“ scheint direkt an Charlie Chaplins Modern Times bzw. Jacques Tatis Playtime anzuschließen.

Die von Hierarchiebewußtsein und Austauschbarkeit geprägten Verhältnisse der Angestellten dienen Arzú als Ausgangskonstellationen für kurze Erzählgedichte, in denen selten Wesentlicheres passiert, als daß eine geradezu unerträgliche Grundstimmung sich immer weiter aufbläht, eine Blase aus zigtausendfacher Realität in westlichen Modefarben, über der als ständige Bedrohung eine Insolvenz dräut, die immer nur die sogenannten Mitarbeiter um ihre aus unbezahlten Rechnungen bestehenden Lebensentwürfe fürchten läßt, während die Bosse in gänzlich anderen Sfären zu leben scheinen.

Auf die Erzählgedichte folgen im zweiten Teil kurze zwei- bis sechszeilige, aforistische Skizzen, die an abstrakte Kunstwerke auf den Fluren von Firmengebäuden erinnern und die im ersten Teil aufgebaute Stimmung eines seiner Lebendigkeit beraubten Lebens nochmals verdichten: „Im blauen Büro / der grauen Angestellten“, „Denn im Büro finden sich Angestellte / Und in den Angestellten findet sich nichts / Arbeit, Arbeit, Arbeitsroutine / Etwas findet sich“.

Alberto Arzús Gedichte werden getragen von verallgemeinerten soziologischen Betrachtungen und Sprechweisen des Pop. Sie transportieren die Hoffnungen der Jugend, des Verliebtseins, denen die Melancholie des Vergehens und Scheiterns bereits innewohnt. Die jungen Dichter Guatemalas räumen auf ihre Weise mit der Literatur des Landes  auf. Aus der Zeit des Bürgerkriegs (1960-1996), der das Volk bis in die Gegenwart traumatisiert hat, erklingen in Arzús Gedichten lediglich die Lieder von The Smiths, The Cure oder U2. Die auftretenden Gestalten scheinen ihrer Wurzeln beraubte, unter globalen Prämissen lebende Weltbürger, die in kurzen lyrischen Strichen mithilfe von New Wave-Songs und europäischen Traumautos vor einer unbestimmten Situation flüchten, in der sie zugleich alptraumhaft auf der Stelle treten. In Alberto Arzús Gedichten finden sich Schnittmengen zu meinen Beobachtungen des urbanen Guatemalas, wie es sich in der Hauptstadt und teilweise in Quetzaltenango abspielt. Trotz einigermaßen stabiler Wirtschaftslage ist allenthalben Desillusionierung spürbar; dafür sprechen die Gesichter der Menschen, die insbesondere in den Straßen der Hauptstadt von Plakaten und Graffiti mit den Konterfeis Verschwundener und Ermordeter gespiegelt wirken.

 

 

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Weiteres finden Sie unter Alberto Arzús Blog.

Stan Lafleur, deutscher Autor und Spoken-Word-Performer, während einer Lesung in Köln. Photo: Elke Wetzig

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