Ein Dach aus Laub

 

In ihrem Essay „Handschrift“ betont Else Lasker-Schüler, die für ihr faszinierendes lyrisches Künstlerbuch Theben zehn Gedichte mit der Hand geschrieben sowie zehn Lithographien geschaffen hatte, die sie für 50 Vorzugsausgaben der auf 250 Exemplare beschränkten Originalausgabe zusätzlich mit der Hand kolorierte: „Ich habe dasselbe fesselnde Gefühl beim Ansehn einer interessanten Handschrift wie bei einer guten Federzeichnung oder einem Gemälde“ und: „Die Schrift ist ein Bild für sich.“ Wie das so ist, wenn einmal ein Wort (ein Begriff, ein Titel) im Raum steht – wie in diesem Fall Ein Dach aus Laub −, so begegnen wir fortan immer wieder Stellen in Büchern, die darauf verweisen. Bei Walter Helmut Fritz etwa – der mit einem feinen Vierzeiler im ersten handgeschriebenen Band Wörter sind Wind in Wolken vertreten ist – lese ich diese wunderbaren Worte: „Im Gedicht finde ich eine Möglichkeit zu atmen; wach zu bleiben; ein Dach über den Kopf zu bekommen; […] in Augenblicken der Mutlosigkeit nicht zu vergessen, daß etwas vor einem liegt, daß etwas offenbleibt.“ So heiße ich alle Lyrikerinnen, Lyriker und Künstler in dieser vierten Ausgabe der handgeschriebenen lyrischen Sammelbände in der edition bauwagen willkommen. Besonders begrüßen möchte ich als special guests in Ein Dach aus Laub die beiden englischen Dichter Richard Burns (von dem ich die Gedichtbände Black Light und Tree ins Deutsche übertragen habe) und Michael Hamburger (von dem Sie signierte, aus dem Langgedicht „Late“ ausgewählte und von Karl-Friedrich Hacker in Blei gesetzte Passagen vorfinden). Beide, Hamburger und Burns, sind dem von mir so geschätzten Rolf Dieter Brinkmann in den Tagen vor dessen fatalem Unfall in London am 23. April 1975 begegnet und haben mir den Dichter Brinkmann näher gebracht: Richard Burns ist Begründer des International Cambridge Poetry Festival, Michael Hamburger gehörte wie Rolf Dieter Brinkmann (John Ashbery, Erich Fried, Ted Hughes, Jürgen Theobaldy) zu den eingeladenen Dichtern. Mit Hölderlin sind die Dichter stets „unterwegs ins Offene“. Gut, wenn sie gelegentlich „ein Dach aus Laub“ über dem Kopfe haben.

 

 

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Ein Dach aus Laub, Theo Breuer (Hg.) edition bauwagen 2003
Vierte handgeschriebene Anthologie mit Gedichten von Peter S. Altmann, Theo Breuer, Richard Burns, Werner Bucher, Peter Ettl, Wolfgang Fienhold, Michael Hamburger, Hadayatullah Hübsch, Hugo Ernst Käufer, Saza Schröder, Helmut Schmelmer, Regine Mönkemeier, Peter Salomon, Kerstin R. Schlageter, Kajo Scholz, Landfried Schröpfer, Rüdiger Stüwe, Rainer Wedler und Christa Wißkirchen, originale Graphik von Karl-Friedrich Hacker und H. D. Gölzenleuchter, 70 Blätter.

Weiterführend

Vom Rand aus arbeiten wir auf dem Online-Magazin Kulturnotizen (KUNO) daran, den  Kanon zu erweitern. Die Idee zum Projekt Das Labor ist ein viertel Jahrhundert alt. Wer über hinreichend Neugierde, Geduld, Optimismus und langen Atem verfügte, konnte in den letzten 25 Jahren die Entstehung einer Edition beobachten, die weder mit Pathos noch mit Welterlösungsphatasien daherkam. Die zeitliche Abfolge der projektorientierten Arbeit ist nachzuvollziehen in der Chronik der Edition Das Labor. Weitere Porträts finden Sie in unserem Online-Archiv, z.B. eine Würdigung des Herausgebers und Lyrikers Axel Kutsch im Kreise von Autoren aus Metropole und Hinterland. Auf KUNO porträtierte Holger Benkel außerdem Ulrich Bergmann, Uwe Albert, André Schinkel, Birgitt Lieberwirth und Sabine Kunz. Lesen Sie auch den Essay über die Arbeit von Francisca Ricinski und eine Würdigung von Theo Breuer.