Poetische Osmose zwischen dem lyrischen Ich und der Welt

A text that alludes to Eliot’s Waste Land, was set to music by Tom Täger,using minimalist techniques and sound effects like the rustle of paper.
Judith Ryan · The Long German Poem in the Long Twentieth Century

Folgt man den Gedanken Weigonis, ist Unbehaust ein Stück über die (mögliche) Freiheit des Einzelnen innerhalb der Unfreiheit der Bedingungen. Jeder träumt den autonom-autistischen Traum vom Leben als Held. Jo Chang, die Heldin, mißtraut diesem Traum. Sie führt ihn vor, destabilisiert, zerreißt ihn. Das Leben bietet andere Realitäten. Und mehr noch – andere Traumata. Erfahrung einatmen, Gedichte ausatmen. Leben und Dichtung sind nicht getrennte Bereiche, sie entwickeln sich miteinander in Verantwortung und Zeugenschaft. Dieses Langgedicht schraubt sich wie Tunnelbohrer durch zeitgenössische Erfahrungsräume. Ob diese Monodramen etwas bedeuten sollen, ist zweitrangig. Entscheidend ist, daß sie sich ereignen. Diese Lyrik ist ein Sprachgeschehen, das die Leser synchron miterleben können, vorausgesetzt, er ist bereit, den sprunghaften Wechsel zwischen symbolistischen und gegenständlichen Weltbeschreibungen mitzuvollziehen. Jo Chang laboriert mit Methoden zum Einfangen irrationaler Verbindungen mittels der „écriture automatique, sie erkennt die seelischen Verkrüppelungen, Restriktionen und kommunikativen Verarmungen, das Orientierungsdefizit der Mitmenschen, ihre autistischen Tendenzen, Doppelmoral, Neurosen und den Lebensverzicht. Diese Perspektive birgt reizvolle Chancen für kleine Grausamkeiten und unerwartete Wahrheiten.

Tiefenbohrungen in die Überlagerungen

A. J. Weigoni erkennt die Schwellen und Brüche der sich rapide verändernden Gesellschaft und bearbeitet ihre Ambivalenzen in seinem Werk.

Sein Stil ist ein Tanz, ein Spiel der Symmetrien aller Art und ein Überspringen und Verspotten dieser Symmetrien. Das geht bis in die Wahl der Vokale. Der Mensch ist ein eigentümliches Wesen, das durch die Sprache von sich getrennt ist. Erst diese Trennung von sich macht es möglich, daß er einen Bezug zu sich selbst hat. Weigonis Schreiben kreist beständig um die Verstrickung in diesen sprachlichen Diskurs. Dieses Lebensthema bildet das Gravitationszentrum seines Denkens. Er will das Leben nicht ersetzen, sondern verdichten, Erfahrungen nicht übertuschen, sondern erforschen. Auch die Form, die ein Künstler seinem Kunstwerk gibt, ist für ihn nur ein Täuschungsmanöver, das Wahrheit und Stabilität lediglich suggeriert. Er beschreibt die Konstruktion von Wirklichkeit als einen offenen Prozeß, den abzuschließen immer schon eine Verfälschung bedeutet, da daß die Behauptung von Eindeutigkeit fordert. An dieser Eindeutigkeit scheitert auch Jo Chang in dem Monodram Unbehaust. Eine Empfindung von Vielfachheit, Gewesenheit und Wiederholtheit reist mit, hält sie gefangen. Ihr nomadisches Dasein ist eine linguistische Odyssee. Jo Chang springt hin und her, verknüpft die entlegendsten Erscheinungen und fesselt durch ihre Kunst der gekonnten Abschweifung. Jede Form von Dogmatismus ist ihr zuwider, stattdessen propagiert sie eine Art kreativer Zweideutigkeit. Offenbar geht die Selbstbesinnung und das Bewußtsein von einer globalen Ordnung weiter, als je vorher, und damit auch das Verlangen, dem einzelnen Wort jenen ganz bestimmten Sinn zu geben, der über die momentane Saturierung und den bloßen Spieltrieb des Organisierens und Kombinierens hinaus reicht; den Sinn nämlich, Poesie jeweils als Vorstellung jener umfaßendsten globalen Struktur zu verstehen, in die alles einbezogen ist. Das hat nichts mit weltfernem Mystizismus und Dogmatismus zu tun, sondern ist ein Zeichen dafür, daß einen in ganz besonderem Masse das Staunen überkommen kann, wenn man heute die einfachsten Überlegungen und Untersuchungen über ein einziges Wort anstellt und Zusammenhänge entdeckt, die zwangsläufig zu neuen Ordnungsvorstellungen führt, zu einer neuen Anschauung der Materie und damit des Handwerks überhaupt. Als unentwegter Passagier der Gegenwart kann sie nicht endlos in der Warteschleife des aufgeschobenen Sinns verweilen.

Geröllhalden des Gedächtnisses

Was uns verbindet ist das Papier. Zwischen Mensch und Papier gibt es eine Intimität, eine geradezu körperliche Affinität. Papier ist dem Menschen in vielem ähnlich. Es ist schwach und altert. Der kleinste Unfall, und es reisst.

A.J. Weigoni tariert den Widerspruch aus, zwischen epischem Anspruch und lyrischer Subjektivität, zwischen dem Ehrgeiz, die Virtuosen einzuholen, und der Sehnsucht nach einer ganz anderen, nicht verdinglichten, weltversöhnenden Poesie. Mitunter gebiert das Leben höchstselbst die Kunst. Wenn es anders nicht zu ertragen ist. Als menschlicher Überlebensausweg aus den Bedrängnissen der Welt. Sie findet aber oft auch dann noch zu einer meisterhaften Form, wenn sie sich aus sich selbst gebiert, ihr Lebenslicht nur weiterreicht. Weigonis Monodram scheint unter der Wortoberfläche eine latente Musikalität mitgegeben zu sein. Jo Chang bewegt sich in den Gärten des Lauschens. Doch anders als bei »Señora Nada«, deren Sprache gleichsam silberhell klingt, arbeitet Täger mit dem Geräusch des Papiers, das er aus der Konnotation des Nebensächlichen, ja des Störenden zu befreien sucht. Tom Täger hat ein waches Ohr für die Naturtöne in der großen Stille. Seine Klangcollage zeugt von großer Disziplin, kommt schlackenlos daher, hart und kristallin manchmal, aber immer wieder auch mit Glanz und innerer Wärme. Diese Komposition ist eine kunstvolle Etüde über die Frage: Wie weit kann man Musik elementar machen, ohne ins Leere zu fallen?

 

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Unbehaust, Künstlerbuch von Haimo Hieronymus und A.J. Weigoni. uräus-Handpresse, Halle 2003

Die Hörspielumsetzung von Unbehaust durch den Komponisten Tom Täger ist erhältlich auf dem Hörbuch: Gedichte von A.J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2015

Original Holzschnitt auf das Cover gedruckt von Haimo Hieronymus

Weiterführend → 

Zum Thema Künstlerbücher finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.

Jeder Band aus dem Schuber von A.J. Weigoni ist ein Sammlerobjekt. Und jedes Titelbild ein Kunstwerk. KUNO faßt die Stimmen zu dieser verlegerischen Großtat zusammen. Last but not least: VerDichtung – Über das Verfertigen von Poesie, ein Essay von A.J. Weigoni in dem er dichtungstheoretisch die poetologischen Grundsätze seines Schaffens beschreibt.

Künstlerbücher verstehen diese Artisten als Physiognomik, der Büchersammler wird somit zum Physiognomiker der Dingwelt. Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421