L’ autre monde oder: Von der Unmöglichkeit

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Es gibt Jahre, in denen man sich das Herz rausschneidet und umständlich ein neues einsetzt. Mechanische Arbeit, Draht­geflecht, Blut und Gips überall. Oft genug, ist zu befürchten, wird dabei das Sonnen­­geflecht, das mentale Herz des Körpers, verletzt, in Mit­­leiden­­schaft gezogen und muß ebenso aus­­ge­­wechselt werden. Der gewünschte Effekt solch einer Aktion, der in den seltenen zeitläufigen Momenten herauf­­beschworn wird, ist der einer Ver­­härtung und Heilung, ohne daß das Problem zuvor noch einmal besehen und bedacht werden mußte. Es sind die Jahre, in denen das Denken zur rationalen Übung werden soll und die eherne Suche nach dem Wirk­­lichen und Wahren … wenn man denn eine Ahnung davon hegt … eingestellt werden muß … und das Emotionale geradezu den Hauch des Kränk­­lichen bekommt, das ihm weithin im angewandten Imperia­­lismus seit jeher zugesellt scheint. Schön und gut, will man glauben, und vergräbt sich in Aquaristik und Musik, ins Strapa­­zieren des Magens mit Wein und Bier, ins Experiment einer zornigen Schlaf­­losigkeit. Leider ist es mir nicht vergönnt, solche harten Schnitte an mir selbst zu vollführen, weswegen ich die Suche nach dem Wirklichen, nachdem ich lange Zeit glaubte, es bereits gefunden zu haben, nun, da ich in ein derart das Herz aus­­schneidendes Dilem­­ma gekommen bin, nicht einfach abbrechen kann. Wo der Gips das Leid schon überdecken sollte, überwiegt noch das Blut. Es bleibt die alte Maßnahme – Gedichte zu schreiben darüber: die ersehnte wie bearg­­wöhnte Hilfs­­konstruktion des Lebens­­umständlers, in der Hoffnung, die zunehmende Kälte des Sprechens möge zur Ratio hinführen.

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Die allermeisten Liebesgedichte, wenn sie tod­­unglücklich sind, beschreiben dieses Herz- und Solar­­plexus-Waidwerk in tausenderlei Ausführungen: die Liebe, nicht erst seit Süskind die schönste und dusseligste Angelegenheit der Menschenwelt, benötigt eine immer wieder völlig individuell vorzunehmende Feinjustierung. Nun sind die meisten Menschen nicht fein justiert, sondern sich vielmehr ihrer Dinge alles andere als sicher, daraus resultiert für den Lie­­benden oft der Schmerz … und nicht selten auch das Gefühl des Fallen­­gelassen­­seins … ein schwarzes Verlies in den pirane­­sischen Hunger­­türmen der umgekippten Anders­­welt. Zu schön – dieser Traum der Erfüllung, als daß man von ihm lassen könnte. Die Konsequenzen des Scheiterns hingegen sind schreck­­lich – nicht wenige Leben sind aus unerwiderter Liebe beendet worden. Die Liebe und der Tod … ein Goethesches, ein Hölder­­linsches, ein Süskindsches Revier, in der Tat. Dort sollte man sich nicht aufhalten, denkt man, ein solches waghalsiges Unter­­fangen erzeugt Höhenängste; und man glaubt natürlich, daß dazu alles erzählt und gesagt ist. Das Ur-Allgemeine und das Ur-Individuelle – im Angesicht der Liebe gerät es aus dem Widerspruch in eines und läßt uns, im Glauben, das Richtige zu tun, oft blöd aussehen. Ich habe bei meiner seltsamen Arbeit zuweilen an die Grenzen der Unerfüll­­barkeit gerührt, ohne über das Ausmaß der wirklichen Unerfüll­­barkeit schon etwas zu wissen. In der Zeit der Solarplexus­­zerstörung hat mich sein Anblick zum Nihilisten gemacht. Es ist etwas besser geworden seither, aber nicht viel. Der Zustand der unmöglichen Liebe, sage ich: eigentlich ist er unaushaltbar.

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Der Aquarianer, wenn er überzählige, aggressive oder unliebsame Fische beseitigen muß, hat verschiedene Arten der Entsorgung zur Auswahl. Die perfideste und wirksamste Methode dürfte dabei der Genickschnitt sein, noch vor dem unsicheren Herzstich. Der Vollstrecker durchtrennt die Wirbelnerven der loszuwerdenden Schöpfung, und der Rest der Schlachtung landet mit zusammen­­gefallenen Kiemen im Klosett, auf dem Kompost. Was den Verehrer des gemes­­senen Schwimmens in Glas dazu treibt, sich so Platz zu schaffen für etwas Neues, das ihn auf eine andere, verlässlichere (wie er hofft) Art erregt und befriedet – man möchte kaum darüber nachdenken … geschweige denn sprechen. Sein Abwenden, man muß es vermuten, liegt wohl oft auch in galop­­pierndem Leicht­­sinn begründet. – Das Wühlen in den Wunden als Kalibrierung des Unglücks: in der Kunst gilt es für tiefste Selbstaufgabe, das Gegenteil des Leichtsinns also. Der Zweifel an der Kunst, der daraus resultiert, ist das Schlimmste, er steht am Beginn einer umfassenden Krisis. Ich frage mich, ob Am Röthaer See und Zdrava voda solche Gedichte der Entsorgung sind; ob in ihnen der Genick­­schnitt gesetzt wird oder man, in der Erkenntnis seiner Hinnahme, von anderer Seite verfügt, noch versucht, ihn zu verhindern. Nimmt man sich etwas mit Worten, weil es ein Gebot der Vernunft, der ›zentrischen Bahn‹ ist? Das Wissen um die Verlorenheit einer Liebe und das Beharren auf ihr – es ist vielleicht in den Worten vollständig parliert … und doch redet es nur in schmerzhaften Visionen von ihrer Unerfüllbarkeit. Wenn man lange in getrübter Ruhe gelebt hat, eine heftige Erfahrung.

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Am Röthaer See entstand im April 2008 und gehört zu den In-hora-mortis-Episteln; der Text erzählt die unglücklichste aller Liebes­­geschichten: die einer Liebe, die zwar erwidert wird, aber an der Furcht des Gegenübers und den Umständen scheitert, weil sie nach den Maßgaben der Realität im herrschenden Konservatismus einen beidseitigen Bruch begeht und von daher, und selbst auferlegt, unmöglich bleibt. Das Gedicht korrespondiert mit den seltenen und weit gestreuten Scheiter- und Verzweiflungsgesängen eines ganzen Jahrs; gewisser­­maßen aber ist es das einzige dieser, und ich will das bewußt sagen: Machwerke, das in Klarheit über die bedrohliche Ambivalenz des Zustands und – dagegen ankämpfend – die Vorahnung seines Zerbrechens spricht. Der Rest ist tatsächlich: Wahn und Traum zunächst, Schmerz und Enttäuschung im Anschluß … eine Zeitlang unter ängstlicher Vermeidung des Blicks auf den tödlichen haut-goût dieses Schmerzes. Man fragt sich in ruhigeren Stunden, wofür. Ich weiß es nicht. Es wird, vermute ich, mit dieser orpheischen Ambivalenz von Dusselig­­keit und Unwider­­steh­­lichkeit zu tun haben: so, wie der Zustand der unsicheren Schwebe geeignet war, mich zu beleben, hält mich der Zustand seiner sicheren Eutrophie und des Zurück­­findens in ›das Gebotene‹ zur Verzweiflung an. Die Geradlinigkeit in der Kunst, das Zurückrudern im Leben – das waren für mich unvereinbare Gegensätze. Man lernt im Schreiben hinzu, wenn man begreift, die Phantom-Sorgen von den eigentlichen Sorgen zu scheiden. In der Phantom-Sorgen-Zeit mag das eine Erkenntnis wert sein. Vielleicht auch deshalb dieses Gedicht.

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Orte wie Rötha finden sich, wenn man beschließt, an ihre Existenz zu glauben, in der längst ausgekohlten und verzweifelt rekultivierten Gegend um Borna, wo sich das osterländische mit dem westmeißenischen Dialektgebiet überkreuzt. Eine kleine Stadt mit vier­­tausend Menschen vielleicht, mit einer Frucht­­saft­­fabrik, einer Eisdiele auf dem Markt, einem brackigen Flüßchen versehen, einem Rückhaltebecken für das alte Tagebauwasser und dem vielfältigen Blick auf ein gewaltiges Kraftwerk auf der anderen Seite des Sees. ›Neuseenland‹, sagt der Zeitgemäße; ›Hilbig-Land‹ der Ausge­­grenzte, der hier auf seltsame Art wiederum ein Eingeweihter ist. Ein Ort des Schmerzes und der Schönheit, des verlorenen Idylls und des reizvollen, vergeblichen Zufalls zugleich. Und Zdrava voda, denkt man sich, möge ein beliebter Rastplatz sein auf dem Weg von Sarajevo in die Hercegovina; und die Forellen, die der Reisende dort frißt, ein abge­­kantetes Lebens­­symbol, ein Ankh, will man meinen, des tödlichen Kreisgangs. Womit ja alles geboten wäre … und nichts: die Nähe, die Ferne, die Flucht und die Sehnsucht … und, zu guter Letzt, der gewaltige Blödsinn, zu glauben, daß alles sich findet. Die relative Nichtig­­keit des einen Ortes und die relative Aufge­­ladenheit des anderen – in den ihnen jeweils zugeteilten Texten erscheint eben das konter­­kariert. Der nichtige Ort: eine Weile hat er den Trug eines erträglichen Paradieses halten können, während der aufgeladene von der Verflüchtigung ins Ferne in Abgeklärtheit spricht. Gemein ist diesen Gedichten die Trauer und das Suchen eben jener Anderswelt – das Röthaer Paar im Schatten des Werks versucht die Schwebe zu halten, während der Tourist in den bosnischen Bergen sein Heil im Fortsetzen der Fahrt sucht.

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Zdrava voda also das Abschieds­­gedicht, die Wirbel­­durch­­trennung aus der Entfernung? Man kann das so lesen, auch im Interesse einer ver­­zögerten Erschöpfung der Seele. Der Grad der Herzaus­­schneidung ist allerdings hoch und von der Kränklich­­keit des Fühlens gesteuert. Man nimmt es auf sich, weil man daran nicht noch verrückt werden will. Die Ausreißung, Jätung des Herzens – vom Standpunkt der Aufklärung her ist sie sinnlos; das Verlangen nach ihr bringt einem den Vorwurf der Romantik ein. Und doch ist sie genau das, was die Auf­­klärung, wenn man an ihre Existenz glaubt, von einem verlangt. Der Zustand der unmöglichen Liebe, sage ich: für das Gedicht ist er ein gefundenes Fressen. Ein alter Hut, aber von eiserner Moderne. Der gebürtige Lyriker, der ich womöglich bin, bewundert natürlich das Sujet dieser Gedichte, weil es zu den aufregendsten gehört, die die Literatur bietet, und weil sich darin die Ahnung von der Daseins­­berechtigung der Poesie möglicher­­weise spiegelt. Er mag zudem das Motiv, das diese Gedichte in entgegengesetzter Manier treibt, das Königskindermotiv, die „Rosenkäfer im Wind der Verdammnis“ oder „die Ahnung / Deiner Ferne ganz fern“. Und überhaupt: Was geschieht, wenn man die Reise durchs Neretva-Tal fortsetzt? Man landet in Mostar. Einen schöneren und zugleich erschreckenderen Ort für die Ambivalenz der Dinge findet man kaum. Ein ambivalenter Zustand der Liebe, das wäre mein Wagnis gewesen, eine Hoffnung auf, eine Tragfläche für eine andere Art der Erfüllung. Das ist nun vertan, der Geist und der Solar­plexus mögen sich dessen erwehren, es nützt ihnen nichts. Man kann versuchen, das zu vergessen und ins Weit­­läufige flüchten. Aber dafür ist man zu haarklein justiert.

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Was hat man also zu tun? Die Frauen mögen? Ihrem Duft nachgehn? Ihr Gelächter erregen, den rauchigen Schimmer ihrer vermeint­­lichen Freude an mir?! Enttäuscht werden. Selbst für Enttäuschung sorgen. Undsoweiter. – Vor fünfzehn Jahren hätte ich nichts darüber schreiben können außer ein paar kryptischen Gedichten. Weil mir die Nähe dieser Gedanken noch viel zu ungeheuerlich war. Wohl hätte ich mich viel mehr nach diesen Gedanken gesehnt als nach der Umsetzung ihres Inhalts. Naja, so ändern sich die Glücks­­umstände … und die des Nicht-Glücks sowieso. Ich vermisse sie heute, eben jene kurze, ›verbotene‹ Nähe. Für sie, die mich belebt und an etwas Neues hat glauben lassen, hätte ich einiges auf mich genommen, sogar den Verlust der anderen, der ›standmäßigen‹ Nähe. Ich habe mich geirrt, leider; und aus der Wucht dieses Irrtums und den Zweifeln, die das Leben, die Kunst, die Liebe betreffen … kurz, aus dem Genick­­schnitt dieser Erfahrung resul­­tieren die In-hora-mortis-Gedichte: die – wie ich meine – reziprok pindarische Epistel Am Röthaer See und der spätere, hercegovinisch gefärbte Abgesang mit der Trauer eines bogumilischen Grab­­steins: Zdrava voda. Vor allem ersteres geht mir noch nach – während das balkanische Lied den Zustand nach dem vollzogenen und schon mit Schorf besetzten Schnitt hält, geht es in der west­­sächsischen Echo­­lalie noch um den Umstand einer wenn auch bereits kompli­­zierten Begegnung. Das Aussetzen der Möglich­­keit dieser Begegnung ist der Grund des Poems. Es ist, wenn ich denn überhaupt etwas darüber weiß, eines meiner schmerzlichsten und ernstesten Gedichte in einer Reihe schmerz­­licher und nur in den seltensten Fällen auswegsamer Texte. Ich liebe und fürchte es sehr.

 

 

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André Schinkel, porträtiert von Jürgen Bauer

Weiterführend → Lesen Sie auch das KUNO-Porträt des Lyrikers André Schinkel.

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Lesen Sie auch auf KUNO die Würdigung von André Schinkels Prosa.