Gerüst

 

Die blonde Mutter hat schön gerollte Haare in weiblich anmutender Länge. Sie trägt schöne weiche Sachen, helle, pastellfarbene, fließende. Der Vater kaufte der Mutter immer teure Sachen. Kleider machen Leute, sagten die Eltern immer. Kleider sind ein Gerüst für Erfolg der Leute. Du verstandest diese Sätze lange nicht. Denn die „Leute“, das waren  immer die, die nichts erfahren durften, die „dachten“, wenn man anders war. Später entdecktest Du, dass die Mutter keinen ausgeprägten guten Geschmack hatte und viel Synthetik trug, was du verabscheutest. Später wußtest du, was ein Gerüst war, ein sogenannter „Herrendiener“, auf den die Mutter sorgfältig die Dienstsachen des Vater wie an einer Vogelscheuche drapierte. Die Kinder hatten Angst davor. Noch heute macht dir so ein Kleidergestell mit männlichen Kleidungsstücken oder auch ganz unbedeckt Angst. Das Herz klopft und das Wort brutal drängt sich immer auf. Auch beim Wort brutal, wenn es andere verwenden, stellt sich gleich das Bild des „Herrendieners“ ein. Der Vater vermittelte den Kindern, dass selbst ein solches Gestell ihm, dem Vater, der alles wisse und könne, demütig zu Diensten sei. Nach dieser Erklärung wurde das Gestell zu einer Art Überperson oder gar Spitzel, Stellvertreter, wenn der Vater nicht da war. Die Kinder gingen aber auch, wenn die Eltern zum Einkaufen unterwegs und sie alleine waren, zum Herrendiener ins Schafzimmer und schimpften laut und wichtig mit ihm. Denn sie wußten eigentlich recht gut, dass das Gestell tot war.

Du siehst aus, wie ein Klappergerüst, hatte die Mutter oft tadelnd zur Tochter gesagt. Sie war viel zu dünn. Sie wurde als unterernährt für die Schule ein Jahr zurückgestellt. Das ärgerte die Eltern. Jetzt denken alle, wir haben ein dummes, zurückgebliebenes Kind, das sitzengeblieben ist in den nächsten Jahren, jammerten sie. Sie schoben dem Kind die Schuld zu. Es aß einfach zu wenig Butter, Eier und zu wenig halbgargekochte Saubohnen mit fettem, angebranntem Speck. Und obwohl das Kind ein Jahr später noch immer kleiner und dünner als die anderen Kinder war, schämte es sich, weil es schon älter war als die anderen. Die ganze Kindheit blieb mit dieser Scham verbunden, und manchmal befahlen ihr die Eltern, ihr wahres Alter um ein Jahr zurückzustellen, wenn sie gefragt wurde.

Du mußtest immer ein Jägergrün tragen, oder puddingrot, – dein Gerüst in der Tiefe der dich abstoßenden Erinnerung ist jägergrün und übelerregend himbeerrot gestrichen. So ein Bonbonrot von einem synthetischen Pudding, den du im Heim zwangsweise als schon erbrochenen auslöffeln mußtest. Grün waren die sperrigen Sachen, Hosen, Mäntel und Pullover, die später die kleineren Brüder weiterzutragen hatten, deshalb erhielt das Mädchen nur Kleidung für Jungens. Synthetikhimberrotfarben waren muffig riechende, sich schlecht anfühlende und ungewaschen abgelegte Kleidungsstücke von Kollegentöchtern des Vaters. Meist waren diese Kostüme, Röcke und Kleider zu groß und das kleine Mädchen stak darin wie eine Tomatenpflanze im Frost, über die man einen Sack gezogen hatte und ging damit gesenkten Kopfes und mit eingezogenen Schultern durch eine es mitleidig oder hämisch belächelnde Welt.

 

 

Angelika Janz

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Lesen Sie auch das Kollegengespräch, das A.J. Weigoni mit Angelika Janz über den Zyklus fern, fern geführt hat. Vertiefend ein Porträt über ihre interdisziplinäre Tätigkeit, sowie einen Essay der Fragmenttexterin. Ebenfalls im KUNO-Archiv: Jan Kuhlbrodt mit einer Annäherung an die visuellen Arbeiten von Angelika Janz. Und nicht zuletzt, Michael Gratz über Angelika Janz‘ tEXt bILd