Schriftstellerbegegnungen

 

Der jüngste Dichter, dem ich in meinem Leben begegnet bin, war Gert Jonke; damals gerade 16 Jahre alt. Das war im „Café Ingeborg“ in Klagenfurt in den frühen Sechzigerjahren. Jonke war ein schmächtiges Bürschchen, sehr schweigsam, sehr freundlich, sanftmütig. Später trafen wir uns ein paarmal in Wien, als er hier an der Universität irgend etwas inskribiert hatte. Die meiste Zeit aber saß er zu Hause, d.h. in seinem Einbettzimmerchen im Internationalen Studentenhaus in Döbling, und schrieb; immer mit seiner Füllfeder in ein dickes Buch. Wir gingen ein paarmal miteinander spazieren, nicht in der Innenstadt, sondern meist am Stadtrand. Das Leben dort interessierte ihn und zwar bis ins kleinste Detail. Wir waren in alten Zinshäusern mit den Bassenawohnungen, oft nur Zimmer-Küche oder Zimmer-Küche-Kabinett, Wasser und WC am Gang. Irgendwann brach  Jonke sein Studium ab und kehrte nach Klagenfurt zurück. Da verloren wir uns aus den Augen, für viele Jahre, ja für Jahrzehnte. Später liefen wir uns manchmal über den Weg, wechselten ein paar belanglose Worte. Erschien sich irgendwie zu freuen, wenn wir uns zufällig trafen, da oder dort, aber es war immer eine gewisse Verlegenheit, die sich in einer uns trennenden Sprachlosigkeit, ausdrückte, zwischen uns. Das letzte Mal sah ich den G.F.Jonke am 28. Oktober letzten Jahres auf dem Bahnsteig der U-3 Richtung Simmering. Ich machte schnell ein Foto von ihm. Auf dem Foto hat der Jonke wiederum dieses sanftmütige, etwas verlegene Lächeln, das eine gewisse Friedfertigkeit ausdrückte, wie mir scheint; so wie damals, wenn wir uns im „Café Ingeborg“ trafen. Der Jonke war aber schmal geworden. Er war von seiner Krankheit, von der ich nichts wußte, schon schwer gezeichnet. Wir fuhren zusammen vom Stephansplatz bis zur Landstraße, wo er ausstieg. Ein „Servus!“ und ein Wink durch das Fenster war das Letzte zwischen dem Jonke und mir. Die Todesnachricht erfuhr ich von einem Freund. Sie machte mich traurig und stumm.

Der älteste Schriftsteller, den ich kennengelernt habe, ist der Friedl Stix (Univ.-Prof. Dr. Gottfried Stix). Mit dem habe ich gestern telefoniert. Der wird – „so Gott will“, hat er gestern gesagt – im April dieses Jahres 98 ! Jahre alt, also fast ein Jahrhundert. Ich wünsche ihm sehr, daß er den Hunderter schafft. Wir sind, so darf ich sagen, miteinander gut befreundet. Wir haben einiges gemeinsam, wovon wir auch bei unseren Telefonaten immer sprechen, nämlich das Obere Mühlviertel, konkret: Aigen am Böhmerwald, wo er so wie ich am Hagerberg Schigefahren ist und in der Großen Mühl gebadet hat. Und dann noch Rom, das wir beide sehr lieben und wo der Friedl. so nenne ich ihn, so wie er mich Peter Paul nennt, an die fünfzig Jahre als Lektor für Österreichische Literatur an einer dortigen Universität gelehrt hat. Irgendwie hat es ihn dort hingeschlagen, denn vorher war er schon in den Abruzzen, hat sich dort versteckt, er war nämlich von der Deutschen Wehrmacht desertiert, „ich wollte nicht mehr mitmachen bei der ganzen Nazigschicht“. hat er mir das einmal begründet. Mutig, dachte ich; und sympathisch noch dazu. Antimilitarist. Das verbindet uns auch. Und dann noch eine Stadt sehr weit östlich, heute an in Polen, an der Grenze zur Ukraine, früher österreichisch, von der Architektur über die Schule bis hin zur Verwaltung und zur bekannten Festung; eine Garnisonsstadt. An den „Trotta“ dachte ich, als ich dort war und vor meiner Lesung in der Uni einen schönen Spaziergang machte. Ich habe auch zwei, drei Kirchen besucht; Kirchen, in denen der Schüler Gottfried Stix, als er die dortige Volksschule besuchte, sicher oft gewesen ist. „Ja, das kenn’ ich natürlich alles“, hat er einmal zu mir gesagt. Zu seinem Neunziger haben wir einen gemeinsamen Spaziergang gemacht, draußen in Sievering. Und da habe ich einige Fotos von ihm gemacht, so wie anschließend dann noch einige in seiner Bibliothek. Der Stix ist ein Hajku-Meister. Auch das verbindet uns: Die Kürze, die Knappheit, das Aufspüren und Ausdrücken des Poetischen in ihr. Aber immer, wenn wir miteinander telefonieren, reden wir vom Böhmerwald, den wir beide nicht nur lieben, sondern dem wir uns zugehörig fühlen, der uns auch geprägt hat. Das Mühlviertel ist nämlich eine Landschaft, die den Menschen in ganz besonderer Weise prägt, so daß sich im Menschen etwas von der Landschaft widerspiegelt und wiederfindet. Das ist die Stille, das Schweigen, das Stillsein, die Liebe zum Leisen, anstatt zum Lauten; daß man so leise ist, daß man den Wind hören kann, wenn er über die wogenden Felder und die Wipfel der Bäume streicht.

Der wildeste und verrückteste Dichter, den ich kennengelernt habe, damals im legendären „Café Sport“, im Anarchistencafé, wo alle waren, die im Hawelka Lokalverbot hatten, war der Hermann Schürrer, das Dichtergenie; leider früh verstorben. Der Alkohol hat ihn umgebracht, richtiger formuliert: Er hat sich mit dem Saufen zugrundegerichtet. Aber er war ein Genie! Nicht nur ein Außenseiter. Im Café Sport war er sowieso der Mittelpunkt, in jeder Hinsicht, er dominierte alles; wenn er – und eigentlich war dies sein Normalzustand – seinen Level an Trunkenheit erreicht hatte, also ziemlich besoffen war, dann schrie er herum, haute auf die Musikbox, daß es nur so krachte, schrie irgendwas in die Runde, verlangte von jedem, der irgendwie nach Geldhaben aussah, mit der größten Selbstverständlichkeit ein Bier, das er aus der Flasche in 2-3 Zügen und Minuten ausgetrunken hatte. Dann bestellte er das nächste, vielleicht das zehnte Bier. Die Frau Pauli sagte dann halb-streng, weil sie wußte daß es sowieso nichts nützte und sie den Schürrer anscheinend irgendwie mochte: „Aus jetzt. Schluß jetzt, Schürrer, du bekommst kein Bier mehr, von mir jedenfalls nicht mehr; bis sie ihm das nächste brachte. Die Frau Reichmann hinter ihrem Pult schaute streng und drohte mit der Polizei, die sie auch rief, wenn es gar nicht mehr anders ging. Die nahm dann den Schürrer mit, sowieso nur mit auf die Straße, wo sie zu ihm sagte: „Verschwind, verschwind. und laß dich nicht mehr so schnell hier blicken!“ Man kannte ihn. Viele kannten ihn. Der Schürrer war – lokalmäßig jedenfalls – stadtbekannt. Überall hatte er Lokalverbot. Man konnte mit ihm sowieso nirgendwohin gehen. Nur im Café Sport saß er jeden Abend bis zur Sperrstund, bis Mitternacht, und darüber manchmal noch hinaus. Wo er dann hinging, hintaumelte, das wußte kaum einer; in irgendeinen Unterschlupf, einmal soll das über einige Zeit sogar ein Kohlenkeller gewesen sein. Der Schürrer hatte keinen festen Wohnsitz. Er hatte eine Schwester, die sich ständig um ihn sorgte. Der Schürrer hat einmal für ein paar Nächte bei mir übernachtet, das war gar nicht lustig, nein, ganz im Gegenteil. Mein mir lieber Plattenspieler und die Glastür waren dann kaputt, das Sofa war auch unbrauchbar. Den Plattenspieler hat er zertrümmert, weil er die Musik, die ich aufgelegt hatte, nicht mochte, vielleicht eben gerade in dem Augenblick nicht. Der Schürrer war unberechenbar, konnte auch zuschlagen, was er aber kaum und nicht gezielt tat. Das war halt einer seiner Wahnsinnsausbrüche, die man gewohnt war, wo man dann besser nicht in seiner Nähe war. Der Schürrer hat auch einen Prozeß gehabt. Der Kurier titelte „ Unterstandsloser Dichter!“ Oder so ähnlich. Der Schürrer ist aus einem Zug gesprungen, als er irgendwo abgeschoben werden sollte, so genau wußte das niemand. Jedenfalls hieß es: Der Schürrer ist tot. Er war aber nicht tot, sondern eine lebende Legende; jedenfalls in der damalige Wiener Künstlerszene, die alles andere war als eine  „Seitenblicke-Schicki-Micki-Gesellschaft“. Da gab es keine Bussis, sondern höchstens Watschen, unflätige Worte sowieso; aber auch Liebes-Leidenschafts-Beziehungen und die daraus resultierenden Dramen. Also, nach dem Schürrer-Zugsprung suchte ich ihn und fand und besuchte ihn in Steinhof. Dort lag er mit verbundenem Schädel in einem Gitterbett. Meine damalige Freundin, eine mondäne aber ebenso verrückte hochstaplerische Modeschöpferin, hat der Schürrer sehr verehrt. Wenn ich mit ihr einen „Wickel“ hatte, also gestritten haben, dann hat mich der Schürrer angeschrien: „Du blöder Arsch du, kannst gleich was erleben!“ Sie hat ihn, so habe ich nach unserer Trennung gehört, auch einmal im Gefangenenhaus in Wiener Neustadt besucht; hat überhaupt länger als ich dann noch Kontakt zu ihm gehabt. Das ständige Domizil nach der Schließung des Café Sport war dann das „Alt-Wien“, ein dunkles, verrauchtes, schmieriges „Kaffeehaus“, eigentlich eine Schenke, voll mit Undergroundpeople mit Studenten, mit Scheinkünstlern und echten Künstlern, wie der Maler Franz Ringel“, den ich fast jedes Mal dort an der Theke traf, wenn ich – sowieso selten – einmal auf ein Drüberstreuerachterl dort war. Dort hat man den Schürrer einmal wie leblos auf dem Klo gefunden. Wieder hieß es, der Schürrer sei gestorben, er war es dann doch nicht. Aber lange hat es nicht mehr gedauert, bis er dann wirklich gestorben ist. Man fand ihn leblos an seinem Schreibtisch in seiner kleinen Gemeindewohnung, die er dann endlich bekommen hatte. Bei seinem Begräbnis – selbstverständlich ohne jede Zeremonie, wie er das absolut sicher gewollt hat – standen wir um das offene Grab herum, niemand sagte irgendwas, der Sarg sank in die Grube, die Pompfüneberer gingen, erwarteten von diesem Haufen von dubiosen Gestalten sowieso kein Trinkgeld. Eine alte Frau stand in einem grünen abgetragenen Wintermantel am Grab und weinte. Es war seine Schwester oder war es doch seine alte Mutter. Die Parte vom Schürrer habe ich bei der Sammlung von Parten meiner verstorbenen Freunde. Und dann habe ich noch ein Plakat, wo der Schürrer mit anderen Kollegen und Kolleginnen aus der Café-Sport-Literatur-Anarchistenszene auf einem kleinen Schiff, nämlich der Überfuhr, über den Donaukanal fährt. Auf dem Plakat steht der Satz: „Wo das Wort aufhört, beginnt die Gewalt!“ Ein Supersatz, der mich beeindruckt hat, vielleicht stammt er vom Schürrer, egal, jedenfalls ein Satz, den ich mir gemerkt habe, der zu einem Grundsatz von mir geworden ist.

Die beiden eigenartigsten, um nicht zu sagen skurrilsten Dichter, die mir je begegnet sind, waren „der Kulterer“ und „der Zoltan Vér“. Beide waren in der Szene bekannt. Kulterer als lebende Legendenfigur, der einmal die „Eröffnungen“ herausgegeben, Ezra Pound“ besucht und sich im Dunstkreis des „Wiener Phantastischen Surrealismus“ (Ernst Fuchs) bewegt hatte. Die Dissertation des Dr. Fabian Kulterer über die Haus-, Hof- und Flurnamen des Jauntales in Kärnten, Umfang ca. 900 Seiten, habe ich einmal bei einem meiner vielen Aufenthalte in Kärnten querdurch gelesen. Die Dissertation war bzw. ist ausgezeichnet, mit Details bis ins Kleinste überhäuft, von einer bald ermüdenden Endlosigkeit eines bienenfleißigen Feldforschers. Eine wissenschaftliche Karriere an irgendeinem Universitäten Institut wäre ihm damit sicher offen gestanden. aber so etwas verschmähte der Kulterer. Er hat sich lieber der Kunst, der Literatur zugewandt. Ich weiß nicht, ob der Kulterer je etwas jobmäßig gearbeitet und wovon er also gelebt hat und noch lebt. Niemand weiß das. Jedenfalls tauchte der Kulterer überall in der Szene auf, auch bei Vernissagen, eine Zeitlang in Begleitung seines (auch schon längst verstorbenen) Werner Schneider. Geschrieben hat der Kulterer anscheinend nie etwas, vielleicht irgendwelche experimentelle Gedichte oder andere Texte, publiziert hat er in seinem ganzen Leben nichts, soweit ich informiert bin. Er hat mir aber einmal ein Buch von sich gezeigt, ein schmales Bändchen, in dem auf jeder Seite nur ein Satz, bzw. der Teil eines Satzes stand; das ganze Büchl bestand also aus einem einzigen Satz. Genial, so eine Publikation in seiner Bibliographie zu haben. Der Kulterer war absolut gescheit und gebildet, und zwar umfassend, und hatte ein großes fundiertes Wissen, auf dem Gebiet der Literatur ebenso wie auf dem der Malerei, der Kunst überhaupt, der Philosophie. Er war sowieso ein Lebensphilosoph. Gespräche mit ihm waren anregend, ein Hin und Her im geben und Nehmen. Der prägnanteste Ausdruck eines abgesicherten Bekenntnisses von ihm war sein Spruch: „Heast, Jolly, das ist aber wirklich so und nicht so.“ Damit war alles gesagt; für ihn jedenfalls. Da gab es dann kein Nachfragen mehr, kein Infragestellen, das war so wie es war und aus. Was das mit dem „Jolly“ auf sich hatte, weiß ich nicht, ich habe ihn nie danach gefragt. Wahrscheinlich hätte er sowieso nur gesagt: „Heast Jolly, des is halt mit dem Jolly so, wie es is!“ Wo der Kulterer jetzt lebt? keine Ahnung. Mal da oder dort. In Wien sieht man ihn selten, ganz selten, nur mehr gelegentlich. Auffallend ist sein Kleidungsstil, ein Mix aus allen längst vergangenen Stilrichtungen und Utensilien. Und er trägt einen langen, nun weißen Bart, wie es sich für einen Gelehrten, einen Privatgelehrten des 19. Jahrhunderts oder der Zeitlosigkeit geziemt. Er ist eine auffallende Erscheinung. Er taucht immer irgendwo unvermutet und überraschend und meist zum Schluß einer Veranstaltung auf, in deren Anschluß es ein Buffet gibt. Dann beginnt sein Vortrag für all jene Gesprächspartner, die seinen Weg zufällig kreuzen. Alte Bekannte und Freunde – so wie mich – begrüßt er herzlich, ja fast überschwenglich. Er fragt sofort, wie es einem geht. Er weiß alles und erinnert sich an alles bis an kleinste, an sonst längst der Vergessenheit anheimgefallenen Details. Er vermittelt glaubwürdige Anteilnahme. Ein skurriler, aber von mir geschätzter Freund. Eine Persönlichkeit – von ganz besonderer Art. manchmal denke ich: Vielleicht lebt der Kulterer gar nicht wirklich, in der Wirklichkeit ja sowieso nicht, vielleicht ist er „nur“ (mehr) eine Legende, eine Erscheinung, eine wie aus einer ganz anderen Welt.

Ein ebenfalls sehr eigenartiger Mensch war der ungarisch-österreichische Dichter Zoltan Vér (sprich: Scholtaan Veer, letzteres Wort mit schmalem, auseinandergezogenen Mund wie das Wort „Beere“, so hat mir das Zoltan jedesmal mich streng korrigierend erklärt). Daß Zoltan ein Dichter war, das wußten nur er selber und ein paar von ihm sorgfältig ausgesuchte Vertraute. Er hatte einen großen Bekanntenkreis, da er fast auf jeder Veranstaltung war, aber nur bei solchen der bildenden Künste, denn den Literaturbetrieb und alles was damit zusammenhing, verachtete er zutiefst. Er weigerte sich auch beständig, irgend etwas von seinem Werk zu publizieren – „nein, wirklich nicht, ich prostituiere mich doch nicht!“, sagte er des öfteren entrüstet zu mir, wenn ich ihm riet oder sogar meine Hilfe anbot, diesen Weg zu beschreiten. „Ich habe mein Notizbuch, das genügt mir“, pflegte er zu sagen. Und schon zog er dieses schmale Notizbuch aus der Innenseite seines Rockes oder seines Mantels und sagte „Nur ein Gedicht, Paul, nur ein Gedicht!“ Und er stellte sich sogleich unter die nächste Straßenlaterne oder vor ein noch hell erleuchtetes Schaufenster, denn ein solcher Augenblick war meistens lange nach Mitternacht, und dann las er mir nicht ein Gedicht, sondern immer mehrere Gedichte und dann noch eins und noch eins „bis zum „Geht-nicht-mehr“ vor. Und wehe, man machte ein Anzeichen, endlich gehen zu wollen. Dann war man in seinen Augen auch „einer von diesen Banausen“, die er – so wie eigentlich die ganze Gesellschaft – verachtete. „Alles Banausen“, pflegte er mit einer wegwerfenden Handbewegung zu sagen. Sich selbst hielt er für einen großen Dichter, für einen, der die Einsamkeit des Dichtens und im Dichten und in den eigenen Gedichten brauchte, vielleicht weil er auch nicht anders konnte. Zoltan Vér hat nie eine andere Lesung als diese „Laternenlesungen“, wie ich sie nannte, abgehalten. Er hätte sich nie in und bei einer öffentlichen Lesung „prostituiert“. Nein, der Zoltan war anders. Für ihn zählte nur der reine Gedanke, die reine Poesie. Alles andere interessierte ihn nicht, lehnte er ab, das hatte keinen Platz in seinem Leben. Von seinem Tod erfuhr ich aus der Zeitung; aus einer Zeitung, die ich aus einem Bündel von Zeitungen entnahm. Dieses Zeitungsbündel lag verschnürt und für irgendwen abholbereit in einer schäbigen Schiffahrtsstation am Ufer der Donau in Budapest. Ich war an der Zeitung interessiert, schlug sie auf, blätterte sie durch; und plötzlich sah ich den Namen „Zollten VR“ auf einer Todesanzeige am Ende der Zeitung. Ich erinnere mich: Es hat mir einen Stich ins Herz gegeben. Dann habe ich ihm einen Gruß hinauf ins Irgendwohin hingeschickt und gesagt: „Also, servus, Zoltan Vér (Veer!), egal wo du bist, ich schick Dir einen Gruß aus Deiner Heimatstadt!“ Wo wohl sein Notizbuch mit seinen Gedichten geblieben ist? Ich weiß es nicht. Einem Kulturattaché vom Collegium Hungaricum und meinem ungarischen Freund Gábor Görgey, der ja sogar für kurze Zeit Kulturminister in der ungarischen Regierung gewesen ist, habe ich gesagt: „Sucht doch das Gedichte-Notizbuch vom Dichter Zoltan Vér!“ Aber ich glaube nicht, daß sie das veranlaßt oder getan haben; sie hatten wahrscheinlich Wichtigeres zu tun.

Ein anderer damaliger Zeitgenosse aus dem legendären „Café Sport“ war der Joe Berger, der mit dem einen Auge; d.h. er hatte schon zwei Augen im Kopf, aber eines – welches war das nur, das linke oder das rechte, ich glaube es war das linke – war ganz zusammengekniffen und mit dem sah er fast nichts. Mit dem anderen und mit seinen inneren Augen jedoch sah er alles ganz genau und auch sofort. Er sah sogleich jede schöne Frau, die bei der Tür hereinkam. genauso wie jeden „Schweinehund“, den er nicht mochte.  Die feineren Herren, „die feinen Pinkel“ betitelte man sie im „Sport“, die kamen sowieso nicht zu uns nach hinten, zu den dreckigen, stinkenden Tischen, wo wir in zusammengehörenden Gruppen, zwischen denen es oft genug Streit gab, oft hingelümmelt an den Tischen saßen. Diese „feinen Pinkel“ hatten ihre Plätze vorne beim Ausschank, wo die Frau Chefin, die Frau Reichmann, saß und über alles wie ein Wachhund wachte. Diese feinen Pinkel saßen dort sogar auf manchen abgewetzten Polstersesseln, bekamen zu ihrem Bier ein Glas – wir natürlich nicht, außer man verlangte extra eines, dann schaute einen die Paula verwundert an und schüttelte den Kopf, als wollte sie sagen „der spinnt aber jetzt ganz schön“ – also die feinen Pinkel saßen vorne beim Billardtisch, am anderen Ende des Saals. Und die redeten auch anders miteinander, nämlich reserviert und höflich, und hatten überhaupt ein anderes, sie meinten: ein besseres Benehmen – als wir. Also, der Joe Berger erkannte einen „feinen Pinkel“ sofort. Und der hatte nichts bei uns verloren. Falls er sich bei uns sich anbiedern und niedersetzen wollte, wurde er gleich mit einem „Verschwind!“ aus unserem Bereich verwiesen. Der Joe Berger war ein Weiberheld. Er vögelte alles, was wer kriegen konnte, Und er konnte viele kriegen, trotz seiner von jedem Mann vermeintlichen Häßlichkeit, weil er ja ausschaute wie der „Quasimodo“ aus dem „Glöckner von Notre Dame“ in der Verfilmung mit Anthony Quinn. Der Joe Berger pflegte noch dazu diese Häßlichkeit, indem er gerne Grimassen schnitt, auch sein kaputtes Auge dabei einsetzte, selber sogar schrie: „Ich bin der Quasimodo!“ Aber die „Weiber“, wie die „Damen“ genannt wurden, mochten das und mochten ihn, sie waren spitz auf ihn er hatte ein Leiberl bei Ihnen, er konnte sie aufreißen und abschleppen; wohin, das wußte niemand, er fragte aber manchmal gleich und sehr direkt: „Heast, scheene Frau, willst mit mir vögeln?“ Und er hatte damit oft einen überraschenden Erfolg. Was und wo er schrieb, wußte niemand. Er publizierte erst sehr spät, in irgendwelchen obskuren Zeitschriften oder Verlagen. Ich kenne nichts Literarisches von ihm. Ich erinnere mich nur an seinen oft emphatisch hinausgeschrienen Slogan :“Huatela, huatela!“. Was das bedeutete, ob allgemein oder nur für ihn, habe ich nie in Erfahrung gebracht, weiß ich also bis heute nicht. Hätte ich blöd gefragt, hätte ich mir vielleicht eine Watschn oder einen Boxer eingfangt. Also ließ ich das bleiben, ließ ich den Ausruf „Huatela, huatela!“ wie den „Hoppauf-hoppauf“-Anfeuerrungsruf im Sport gelten und so im Gedächtnis. Der Joe Berger hatte ein frohes Gemüt. Er lachte oft, laut und gern. Für ihn war es das Selbstverständlichste der Welt, daß er, der Joe Berger, wenn er da war, Mittelpunkt in „seiner Runde“ war. Der Schürrer-Tisch war daneben. Dazwischen war eine unsichtbare Kluft. Der Schürrer war abgründig und eine  tragische Figur , der Joe Berger war laut und dominant als Lebenslustigkeit und Begeisterung. Er hatte auch ein mitfühlendes Herz, ja, ich würde sogar so weit gehen zu sagen, er hatte ein kindliches, ein sanftes Gemüt. Bei seinem Begräbnis in Kaltenleutgeben, Jahrzehnte nachdem das Café Sport geschlossen hatte und die ganzen Gruppen auseinandergefallen und ins Niemandsland verstreut worden waren, sah man viele alte Kumpeln aus der damaligen Zeit des Café Sport. Man begrüßte sich mit „seavas!“, fragte aber sonst nach nichts, auch nicht mit dem formelhaften „Wie geht’s“, sondern nahm den anderen als selbstverständlich, so wie es schon immer und damals gewesen war. Schweigend gingen wir nebeneinander – eine große Menschenmenge – den Friedhofsberg hinauf. Keine Zeremonie. Genauso wie beim Schürrer-Begräbnis. Aber der Wolfi Bauer hielt eine phantastische, würdigende und sogar würdige Grabrede auf den „Joe“. Dann sank der Sarg in die Grube. Joe Bergers Lebensgefährtin oder Witwe weinte, man kondolierte ihr, so man sie kannte. Dann gingen wir alle in ein Wirtshaus unten im Ort. Ich saß mit Elisabeth Wäger, die ich nur aus dem Café Sport von damals her kannte und Jahrzehnte nicht gesehen hatte, und mit dem Jazzer-Saxophonisten Uzzi Förster, ebenfalls eine Legendenfigur, zusammen. Wir tranken einige Gläser Wein, Schnaps oder Bier auf den „Joe“, der uns nun verlassen hatte, und dann ging wieder jeder seines dem andern unbekannten Weges. Das nächste Mal war ich dann beim Begräbnis vom Uzzi, mit dem ich dort zusammengesessen war; auch einem „Sportler“ von damals, einer längst vergangenen, aber nie vergessenen Zeit.

Einer der nie im Café Sport war, weil der wirklich nirgendwo dazugehörte und kaum mit jemandem sprach, sondern nur trank, war „der letzte Arbeiterdichter Österreichs“, wie er sich selbst bezeichnete, nämlich der Kobalek oder Kovalek. Wie man seinen Namen schreibt, weiß ich nicht und wußte ich nie, das war auch völlig wurscht. Er war halt der Kobalek oder Kovalek und aus. Er saß an jedem Abend an der „Theke“ im „Bücke-dich“, einem Café, besser gesagt: einem Lokal an der Zweierlinie bei der Stadion- und Josefstädterstraße, in das, als das Sport geschlossen worden war und die einen ins „Savoy“ oder ins „Café Alt Wien“ oder anderswohin auswichen waren, bald auch zu einem Unterschlupf wurde, aber ohne feste Szene, sondern eben nur ein Lokal war für Einzelgänger, nicht mehr für Gruppen. Das Lokal hatte seinen Namen davon, daß man sich, wenn man es, da es im Souterrain war und nur einen kleinen schmalen Eingang hatte, bücken mußte, wenn man es betreten wollte. Also, da saß jedes Mal dann der Kovalek/Kobalek, er saß auf einem Hocker an der Theke, vor sich ein Achtelglas mit billigem, schlechten Rotwein, starrte vor sich hin, schweigend, sagte nie ein Wort, deutete nur auf sein Glas, wenn das leer war und bestellte so ein neues. Mich interessierte dieser „letzte Arbeiterdichter“, also suchte ich seine Nähe, setzte mich auf den Hocker neben ihm in der Hoffnung auf eine Gemeinsamkeit, auf ein Gespräch. Er aber sagte, soweit ich mich erinnern kann: „Red’ mich bloß ned an!“ Und dann schwieg er wieder. Also mußte ich mich mit dem Mythos Kovalek-Kobalek-Arbeiterdichter aus Wien abfinden. Man sagte, er sei gebildet, er kenne die Arbeiterdichtung, die Proletarierdichter, die früher einmal, auch wenn sie gar keine waren, in der legendären „AZ-Arbeiterzeitung“ vor dem Krieg, als die Sozis noch auf Bildung wert legten, ihre Gedichte veröffentlichten und diese nicht nur mit Zustimmung und manchmal sogar mit Begeisterung aufgenommen, sondern sogar diskutiert und zeilenweise auswendig gelernt und hergesagt werden konnten. Der Kobalek/Kovalek war einer von ihnen, er zählte sich jedenfalls dazu; „nicht zu dem Schmarrn, den es heutzutage gibt“, soll er einmal gesagt haben. Der Kobalek/Kovalek hatte immer blaue Lippen und eine blaue Zunge, vom Rotwein. Er hatte immer das gleiche verschmuddelte Gewand an. das er anscheinend ewig nicht gewaschen hatte, er stank etwas, aber der schweißige Körpergeruch wurde durch den von Kohle überdeckt und gab allem eine herbe Note. Der Kovalek/Kobalek lebte nämlich in einem Kohlenkeller, den er von seiner Mutter geerbt hatte und den er bedarfsweise betrieb. In den Kohlenkellern, die es damals noch gab, war meistens auch so eine Art Verschlag mit einem Büro drinnen und manchmal stand da auch noch eine alte dreckige Couch, auf der man sich ausruhen oder wieder Kovalek mit einer Kotzen zugedeckt die Nacht verbringen konnte. In der Früh sperrte man sein Geschäft dann auf, wenn die ersten Leute kamen, um sich Kohlen und Brennholz zu holen. Das war also praktisch. Und obwohl der Kovalek/Kobalek also eigentlich ein Geschäftsmann war, weil er ja ein Geschäft hatte, war er doch „der einzige lebende österreichische Arbeiterdichter“, Mit ihm und dem grundlegenden verderblichen Wandel der Sozis ist dieses Genre der Literatur ausgestorben. Angeblich hatte und hat der Kovalek/Kobalek einen ganz berühmten Bruder, einen weit über die Grenzen Österreichs hinaus bekannten bildenden Künstler, einen Maler, dessen Werke auf dem Internationalen Kunstmarkt preislich ganz oben rangieren, also sauteuer sind. Jeder Kunstkenner von zeitgenössischer Kunst kennt ihn, da die Werke dieses Künstlers bei großen Ausstellungen gezeigt werden und in allen Museen zu finden sind. Dieser Mann soll sein oder ist es wirklich, der Halbbruder vom Arbeiterdichter Kovalek/Kobalek. Der Mann heißt Franz West.

Die Jeannie Ebner war eine Dame. Und für mich eine etwas exotische Frau: Sie war ja in Sydney geboren und erst dann nach Österreich gekommen. Sie war eine bekannte Dichterin. Sie war eine sehr schöne Frau, natürlich vor allem in jungen Jahren. Da verkehrte sie im legendären „Strohkoffer“, einem Künstlertreff, vor allem der Maler und Bildhauer. Sie hatte ja selbst Bildhauerei studiert. Und sie zählte sich zuerst auch zu den bildenden Künstlern. Erst etwas später verschrieb sie sich ganz der Literatur. Sie war hochgebildet, stets von einer Aura der Würde umgeben, obwohl sie auch heiter und gelockert konnte; frivol war sie – trotz ihrer vielen Abenteuer (wie sie mir einmal in einem Vertrauensgespäch bekannt hatte) nie. Nein, ihr lag vielmehr das Einfache, das ihr – auch literarisch – viel bedeutete; im wahrsten Sinn des Wortes. Ich erinnere mich an unser gemeinsames Leberblümchen-Pflücken im Frühling beim Stift Heiligenkreuz, in späteren Jahren, nicht lange nachdem ihr geliebter „Ernstl“ verstorben war. Eigentlich hieß die Jeannie ja mit bürgerlichen Namen gar nicht Ebner, sondern Allinger. Den Künstlernamen Ebner hatte sie in Anlehnung an ihren Onkel, den österreichischen Philosophen Ferdinand Ebner, angenommen. Die Jeannie Ebner betrieb während des Krieges in Wiener Neustadt ein von der Familie ererbtes Transportunternehmen. Als dieses zusammenbrach, studierte sie in Wien Bildhauerei, hielt sich mit Übersetzungen über Wasser, bis sie sich eben der Literatur zuwandte und Romane und Lyrik schrieb. Lange Zeit war sie auch Redakteurin der Literaturzeitschrift „Wort in der Zeit“ tätig. Zuhause, in einer winzigen alten Gemeindewohnung am Mittersteig im fünften Bezirk, die mit Büchern vollgerammelt war und wahnsinnig nach Tabakrauch stank, lebte sie mit ihrem Mann, der Chemiker war. Beide tschickten sie, was das Zeug hält; die Jeannie immer „Austria drei“, die stärkste und billigste Zigarette, natürlich filterlos, ein Barabertschick. Kochen lag ihr nicht, sagte sie mir einmal.; „aber ich muß es tun, der Ernstl braucht doch schließlich was zum Essen“. Sie selber war mehr als genügsam. Am Achterl Wein nippte sie – ich möchte fast sagen: stundenlang. Dazwischen rauchte sie Unmengen Zigaretten, oft auch mit einem Zigarettenspitz. Die Jeannie hat, wie sie mir einmal, ich glaube es war in ihrer Wohnung, mitteilte, viele Jahre hindurch ihre vom Schlaganfall gelähmte Mutter gepflegt. Das stand ganz im Gegensatz zu ihrer zierlichen, ja fast zerbrechlichen Erscheinung. Gekleidet und gepflegt war sie immer tipptopp. Meine Lebensgefährtin Susanne liebte sie ganz besonders. „Sei froh, daß du sie hast“, sagte sie immer wieder zu mir, „die schaut auf dich!“ Ihre Gedichte mag ich. Sie sind trotz der oft Großen Themen von einer solchen Einfachheit und Schlichtheit, daß sie mich berühren und mein Innerstes erreichen. Dafür und für die Begegnung mit ihr überhaupt bin ich sehr dankbar.

Einer der ganz sicher nicht ins Café Sport gegangen wäre und so naturgemäß auch nicht dorthin ging, war der leider heute fast gänzlich vergessene Dichter und damalige Staatspreisträger Franz Kiessling. Der lebte nur in seinem Bezirk, eigentlich nur in seinem Grätzel, nämlich in der Neustiftgasse, Nähe Neubaugasse. Dort verkehrte er in drei Lokalen: Im Gasthaus Vyklicki, im Gasthaus Sinkovic – und wenn diese Sperrstund machten – dann noch auf ein Drüberstreuerachterl im Café Neustift vis-à-vis, das bis 2 Uhr nachts offen hatte; ein Espresso-artiges, eher ungemütliches Lokal mit Neonlicht und unpersönlicher Bedienung. Der Kiessling war immer in einen Anzug gekleidet, manchmal, im Sommer, trug er auch eine Kombination, wie man das zur damaligen Zeit nannte, nämlich eine Kombination aus verschiedenfarbiger Hose und Rock, genannt Sakko. Er trug stets Krawatte und ein gebügeltes Hemd, wenngleich dieses schon die vorige Woche gesehen haben mochte. Seit einem Unfall war er im Kopf und auch so, psychisch sagte man damals noch nicht, krank und hatte eine sehr kleine Pension. Er lebte von seiner Familie getrennt, hatte mit seiner Frau viele Kinder, jedenfalls mehr als fünf, er war sehr katholisch, jedes Freigeistertum, so wie meines, war ihm nicht nur fremd, sondern auch verdächtig und nicht sympathisch. Trotzdem mochten wir uns. Das ist vielleicht zuviel gesagt. Wir trafen uns halt des öfteren. Erstens, weil auch ich ein Wirtshaugeher und kein Kaffeehaussitzer war und nie geworden bin, und zweitens, weil der Kiessling der erste Dichter war, den ich persönlich kannte, der mit seine Gedichte vorlas und der sich meine anhörte und mir bezüglich dieser diverse Ratschläge gab, manchmal welche, die man beherzigen mochte, andere wiederum, die hoffnungslos in die literarische Stilvergangenheit zurückführten. Er gehörte der literarischen Nachkriegsgeneration an, seine Dichterkollegen, die er und die ihn kannten, ohne daß dies je zu Begegnungen geführt hätte, waren der Johann Gunert, die Christine Busta, die Jeannie Ebner, die Doris Mühringer, der Herbert Eisenreich, um nur einige Namen zu nennen. Er gehörte keiner Vereinigung an, ging zu keinerlei Veranstaltungen, so auch nicht zu Lesungen oder ähnlichem, er saß oder stand meistens stundenlang nur in den genannten Gasthäusern und trank, trank so vor sich hin. Um ihn bildete sich mit der Zeit eine kleine Runde von Lyrikfreunden: auch der Schneider Fritz war dabei, durch den ich die italienische (Ungaretti/Alberti) und die spanische Lyrik (Lorca), ja sogar südamerikanische Lyrik kennenlernte. Der Schneider Fritz war Naturwissenschaftler, arbeitete in Seibersdorf, kannte sich auch in der Musik gut aus, ich lernte viel von ihm. Er war – im Gegensatz zu mir – leider total verkrampft. „Fritz, wenn du so weitermachst, dann endet es noch einmal schlimm mit dir“, sagte ich einmal zu ihm. Und so war es auch. Er ist in einem Anfall von Verwirrung von einem hohen Felsen hinuntergesprungen, hat noch kurz gelebt, hat angeblich nur mehr lateinisch gesprochen und ist so umnachtet gestorben. Das muß lange nach unserer gemeinsamen „Kiessling-Zeit“ gewesen sein; denn die war in den sehr frühen Sechzigerjahren. Der Kiessling ist im Spital von Korneuburg gestorben. Freunde, nämlich der Mann der Schriftstellerin Ilse Tielsch, der an dem Krankenhaus Arzt war, und die Tielsch selber haben ihn dorthin gebracht. Ein wunderbares Gedicht vom Kiessling ist mir in Erinnerung und einen Satz daraus kenne ich seither auswendig. Das Gedicht heißt „Bäume“. Daraus die folgenden Zeilen: Noch steht der Wald, den ich als Kind bewundert,/ und scheint nicht älter, als er damals schien./ Mich ändert jedes Jahr. Und dies Jahrhundert/ wird mich begraben irgendwo bei Wien. …Wer bin ich dann? – Ich habe kein Vermächtnis,/ das meinen Namen hier unsterblich macht./ Doch wär ich gern in eines Baums Gedächtnis,/ so wie ich seinesgleichen gern gedacht.“ Ein schönes Gedicht! Ein tiefer Sinn! Ein tragischer Mensch, dieser Franz Kiessling, der ein großer Dichter war, der heute vergessen ist.

Zwei mich tief beeindruckende Begegnungen, keine direkt persönlichen sondern literarische, waren die beiden Lesungen von in der Österreichischen Gesellschaft für Literatur Christine Lavant und von Ingeborg Bachmann; beide damals noch in dem sehr vitalen, heute heruntergewirtschafteten Palais Palffy am Josefsplatz in Wien. Die Lesung von der Christine Lavant war am 21. Mai 1965, die Einladungskarte liegt jetzt vor mir, gelesen haben frühe und neue Gedichte Käthe Gold und Eva Zilcher, die Einleitung hat der philosophisch und kulturell sehr engagierte Jesuitenpater Alfred Focke gehalten, der tragischerweise von einem seiner Sommerspaziergänge in gebirgiger Gegend nicht mehr zurückgekommen ist und dessen Leichnam bis heute nicht gefunden wurde. Ich erinnere mich noch gut. „Die Lavant“, eine von  ihrem schweren Schicksal niedergedrückte, zerbrechliche Gestalt betrat schüchtern und gebeugt den Saal, sie war wie in eine ärmliche lange Kutte gekleidet, mit einem braunen Kopftuch auf dem Haupt, das ebenso wie ihre Gestalt gebeugt war, sie blickte zu Boden, kaum ins Publikum, alle klatschten, begeistert und verehrungsvoll, denn sie war damals schon eine Dichterlegende. Ihre Erscheinung entsprach in Wirklichkeit genau dem Bild, das Werner Berg von ihr gemalt und ebenso als Holzschnitt angefertigt hatte. Große dunkle Augen, mit denen sie wie unberührt von allem in eine weite Ferne schaute. Dann eine kurze Kopfhebung, ein scheues Lächeln zum Publikum hin, und wieder senkte sie den Blick und das Haupt und zog sich in sich selbst, in ihre Einsamkeit auch zurück. Nie mehr habe ich einen Dichter, eine Dichterin in einer solchen Bescheidenheit und Zurückhaltung, ja Schüchternheit erlebt. Und dies bei einem solchen dichterischen Lebenswerk, wie es Lavant vorzuweisen hatte. Ich besaß damals schon die Lyrikbände „Der Pfauenschrei“ (2 Auflage 1968) und „Die Bettlerschale“ (4. Auflage 1972) und hatte mich – ebenso wie mit Georg Trakl – eingehend mit dem lyrischen Werk der Christine Lavant befaßt, das mich in seine Tiefgründigkeit hineingezogen, durch den poetischen Bilderreichtum bereichert und in seiner Expressivität sogleich angesprochen hat. Da saß nun die Dichterin, draußen im Scheinwerferlicht, hörte ihre eigenen Gedichte, wie sie rezitiert wurden und war von all dem wie in eine unerreichbare Ferne entrückt. Im Saal war es – der Ausdruck paßt zur Lavant und ihren Gedichten – totenstill. Und nach der Lesung wurde zwar geklatscht, aber man spürte, daß fast jeder in seiner eigenen Nachdenklichkeit versunken war. Eine Frau, die höchst seltsam war und die Gedichte schrieb, die einem im Innersten berührten. Eine unvergeßbare Begegnung mit einer Dichterin und ihrer Literatur.

Ebenfalls im Palais Palffy fand am 10. Mai 1965 die Lesung von Ingeborg Bachmann statt. Der Saal war zum Bersten voll. Ich ergatterte gerade noch einen Stehplatz vorne am Rand. Dann setzte ich mich seitlich auf das Podium, auf dem die Dichterin stand und ihre Gedichte vorlas. Nein, sie rezitierte nicht, sondern sie las sie wie die Abfolge eines Zugfahrplanes völlig emotionslos, mit immer derselben Stimmlage und Modulierung vor, fast wie teilnahmslos. Keine Emotionalität sollte stören. Das einzige, was zählte, war das dichterisch Wort, das reine Gedicht, sonst nichts. Groß und schlank und mit blondem glatten Haar, das sie immer wieder in gleichmäßigen Bewegungen aus ihrem Gesicht zurückstreifte, stand sie aufrecht da und las ihre Gedichte. Und diese ertönten wie in einem Singsang, wie in einem Lied. Eigenartig und unerhört war all dies. Etwas völlig Neues, Unbekanntes; auch die Subjektivität, das eigene Ich in ihren Gedichten und die Widerspiegelung ihres Ichs in ihrem Gedicht, in ihrer poetischen Sprache, in diesem Strom an Worten, in der Strömung einer neuen Sprache und Bildhaftigkeit, die man nicht sogleich verstand, die man erst entschlüsseln mußte, um zu begreifen, wovon die Rede war. „Und Böhmen liegt am Meer…“: Dieser Satz hat mich seither als etwas geheimnisvolles und zugleich Geoffenbartes begleitet und ich weiß, er wird nie mehr aus meinem Gedächtnis, aus meinem Leben verschwinden.

Unvergeßlich das Zusammentreffen mit Erich Fried am 16. September 1987 in Wien. Wir hatten das Treffen telefonisch vereinbart. Es ging um meinen Fotogedichtband „Farbenlehre“, in dem ich mich mit dem Thema des Holocaust und mit dem ehemaligen KZ Mauthausen befaßte und dem ich den Untertitel „Gedichte gegen das Vergessen“ geben hatte wollte. Doch genau diesen Untertitel fand ich auf einem Gedichtband von Erich Fried. Also konnte ich diesen Untertitel nicht mehr verwenden. Also schrieb ich an Erich Fried nach London, auch mit der Frage, was ich jetzt tun solle und ob er mir vielleicht einen Vorschlag machen könnte, diesen Untertitel so zu formulieren, daß er zwar die gleiche Aussage beinhalte, aber kein Plagiat darstelle. Fried ließ mir über den Alekto Verlag in Klagenfurt ausrichten, ich solle ihn in London anrufen, was ich dann auch vom Postamt aus in Treibach-Althofen, wo ich gerade zur Kur war, tat. Ich wählte die mir übermittelte Nummer, es tutete eine Weile, dann meldete sich eine dunkle Stimme mit „Fried“. Ich nannte meinen Namen, er wußte sogleich Bescheid. Wir kannten einander von der Begegnung beim Ersten Österreichischen Schriftstellerkongreß 1981 in Wien.

In der Wohnung eines Freundes von Erich Fried, in einem Haus am Wiener Naschmarkt, sollte ich ihn zum vereinbarten Termin nach vorherigem Anruf aufsuchen, was ich auch tat. Fried war damals schon sehr krank und sichtbar schlecht beisammen. Trotzdem nahm er sich nicht nur Zeit für mich, sondern ging in einer mehr als einstündigen Sitzung mit mir das Manuskript „Farbenlehre“ durch. Ich bin – wenn man das ausnahmsweise so sagen darf – stolz darauf, daß ihm das Manuskript, daß ihm meine Gedichte und Fotos von Mauthausen gefallen haben, ja daß er davon sogar beeindruckt war, wie er mir versicherte. Mit der Vorgangsweise einer poetischen Textanalyse gingen wir gemeinsam Gedicht für Gedicht durch. Er machte ein paar Vorschläge bezüglich Wortwahl, die wir gemeinsam besprachen. In einem Gedicht heißt es „warte noch ein weilchen/ in diesem chaos/ in diesem kinderspiel/ von leben und tod“. Er schlug anstatt des Wortes „Weilchen“ die Formulierung „warte noch eine Zeitlang“ vor. Ich erklärte ihm aber, daß es sich bei meiner Wortwahl um eine assoziative Version des volkstümlichen Spruches „Warte noch ein Weilchen, bald kommt er mit dem Hackebeilchen und macht Schabefleisch aus dir!“. Ich weiß gar nicht, in welchem Zusammenhang vielleicht eines Sprichwortes das vorkommt, jedenfalls mußte meine Formulierung davon bestimmt gewesen sein; also das Unbewußte oder Unterbewußte im eigenen Gedicht. Natürlich war und ist das in diesem Textzusammenhang und in dieser Assoziation eine Metapher für den Tod. Darauf wies ich Erich Fried hin, und das interessierte ihn auch. Er dachte eine Weile nach und sagte schließlich: „Dann lassen wir das, es ist es gut so.“ Gegen Ende unserer Sitzung nickte Fried, als ich ihm einige Gedichte vorlas, für einen Augenblick ein, war aber sogleich wieder wach, als ich mit dem Lesen aufhörte. Er rief seine Begleiterin, eine junge Frau, herbei und bat sie aufzuschreiben, was er formulieren würde. Und ohne daß ich ihn darum gebeten hatte, diktierte er sein Vorwort für meinen Fotogedichtband „Farbenlehre“, autorisierte das Diktierte auch noch mit seiner Unterschrift.

So habe ich Erich Fried in Erinnerung: bedachtsam, ruhig, entschieden, aber auch ob seiner Empörung über etwas erregt protestierend; wie zum Beispiel beim Ersten Österreichischen Schriftstellerkongreß in Wien, als er davon sprach, was ihn all die Jahrzehnte hindurch daran gehindert habe, nach Österreich zurückzukehren. Nämlich daß Österreich und die meisten Österreicher, vor allem die Regierungen und die Politik sich immer noch auf jene tradierte kollektive Geschichtslüge ausredeten, daß Österreich nur ein Opfer des Hitler-Nazitums gewesen sei, und sich nicht zu ihrer Verantwortung auch als Täter oder begeisterte Anhänger des Nationalsozialismus bekannten. Eben daß Österreich seine eigene Geschichte aus jener Zeit nicht aufgearbeitet hatte, sich auch in den Achtzigerjahren noch davor drückte, ja gar nicht bereit war, endlich sein eigenes Beteiligtsein und seine eigene Geschichte aufzudecken und aufzuarbeiten. Damals gab es einen erregten Tumult im Rathaussaal. Davon gibt es ein Foto, auf dem ich mit Erich Friede in unserer gemeinsamen Empörung zu sehen bin.

Immer wenn ich ein Buch von Erich Fried sehe oder an seinem ehemaligen Gymnasium in Wien vorbeigehe oder wenn ich mit etwas Wesentlichem nicht zurechtkomme, denke ich an sein wunderbares Liebesgedicht mit den Sätzen: „Es ist was es ist…“. Dieser Satz ist für mich zu einer Chiffre geworden, sowohl für die Infragestellung als auch für die Akzeptanz von Wirklichkeit.

 

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Schriftstellerbegegnungen 1960-2010 von Peter Paul Wiplinger, Kitab-Verlag, Klagenfurt, 2010

Wiplinger Peter Paul 2013, Photo: Margit Hahn

Weiterführend → KUNO schätzt dieses Geflecht aus Perspektiven und Eindrücken. Weitere Auskünfte gibt der Autor im Epilog zu den Schriftstellerbegegnungen.

Die Kulturnotizen (KUNO) setzen die Reihe Kollegengespräche in loser Folge ab 2011 fort. So z.B. mit dem vertiefenden Kollegengespräch von A.J. Weigoni mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier. Druck und Papier, manche Traditionen gehen eben nicht verloren.