Plombenzieher und Kalorienbomber

 

Ein halbes Dutzend Kinder lief zwischen den Bänken hin und her. Sie waren müde, hundemüde und konnten doch nicht einschlafen, weil sie Angst hatten, etwas zu verpassen. Diese Furcht spornte sie an, und so vertrieben sie sich die Zeit bis zum großen Feuerwerk mit fangen. Einer von ihnen durfte nicht mitspielen, weil er noch zu klein war. Björn stand abseits, begann sich zu langweilen und berührte mit den Händen die Glühlampen. Verbrannte sich die Finger, pustete auf die Fingerkuppen und wischte sie an seiner Hose ab. Weinend suchte er in dem Gedränge seine Mutter. Die langen Holztische und die vielen Menschen auf den Stühlen versperrten die Sicht. Er lief hastig an einem Betrunkenen vorbei, der nahe dem Delirium tremens seine Augen gen Himmel verdrehte. Die Kellnerin Elsa Lind betrachtete den Trinker aus den Augenwinkeln und beschloss, ihm kein Bier mehr zu bringen.

Von der Theke aus ging sie zum letzten Tisch, an dem es sich ein neues Paar bequem gemacht hatte. Auf diesem Weg konnte sie das Altglas einzusammeln. Langjährige Erfahrung als Kellnerin auf den Jahrmärkten in Deutschland ließ sie erkennen, dass dieses Paar noch nicht lange zusammen war. Der Mann war eine imponierende Erscheinung. Die Art, aufrecht zu sitzen, die gepflegten Hände, ließen auf ein gutes Trinkgeld schließen. Die Frau mit den schwarzen Haaren und dem bunten Sommerkleid empfand Elsa Lind auf den ersten Blick als nichtssagend. Bei der Aufnahme der Bestellung musste sie ihren Eindruck revidieren.

»Ein kleines Helles und’n Schnaps, bitte!«, gab Giancarlo höflich in Auftrag und wartete die Bestellung seiner Begleiterin ab. „Aha…“, merkte Elsa auf, „nicht verheiratet. Ehemänner bestellen für ihre Ehefrauen mit.“ Sie konnte sich auf ihre gesunde Menschenkenntnis verlassen, obschon die Hitze auch sie mürbe gemacht hatte.

»Mir reicht ein Bier«, stellte sie für sich selbst fest. Als die Kellnerin unschlüssig stehenblieb, sah Jacqueline ihr kurz in die Augen. Die zuckte unter ihrem Blick zusammen. Jacqueline registrierte das leichte Zittern ihrer Hände. Elsa verspürte den Impuls, sich bekreuzigen zu wollen, so, wie sie es von ihrer Mutter gelernt hatte. „Du bist alt genug…“, hatte ihre Mutter zu ihr gesagt, als Elsa 15 Jahre alt wurde und ihre Regel einsetzte. „Lass dich nicht mit Jungen ein. Du könntest…“ Ihre Mutter ließ den Satz unausgesprochen, Elsa nickte, sie hatte im Biologieunterricht aufgepasst. Dort redete man zu dieser Zeit nicht mehr von Bienen und Blumen. „Elsa, weißt du, was eine Hure ist?“ Elsa hatte genickt. „Ich meine die andere Sorte, die Schlampen, die, die rumhuren.“ Elsa dachte an ihre Freundin Rita, die schon mit einem, vielleicht mit mehreren Jungen ins Bett gegangen war. Aber so etwas durfte sie ihrer Mutter natürlich nicht erzählen. „Solchen Frauen darfst du nicht in die Augen sehen. Du darfst sie auch nicht berühren.“ Elsa zuckte unmerklich zusammen, sie hatte Rita angefasst, war mit ihr Hand in Hand durch die Stadt gelaufen, so wie es Freundinnen in diesem Alter unbeschwert tun. „Sprich nicht mit ihnen. Sie sind wie eine ansteckende Krankheit. Lass die Zeit modern sein. Was immer das auch sein mag. Aber solchen Huren geh aus dem Weg. Sie sind schlecht.“ Elsa hatte sie fragend angesehen. „Du kannst sie an den Augen erkennen. Auch, wenn sie jung sind, haben sie Augen, als ob sie schon alle Schlechtigkeit der Welt gesehen hätten.“ Elsa hielt die Luft an. Ihre Mutter war in einem bayerischen Dorf aufgewachsen, in dem man 1767 die letzte Frau am Richtstein verbrannt hatte. Ihre streng katholisch erzogene Mutter hatte damals nichts anderes getan, als sie vor einer Hexe zu warnen. Als sie zwanzig Jahre später in Jacquelines Augen blickte, dachte sie: „Es muss mit dem Teufel zugehen…“

Unwillkürlich senkte Elsa den Blick, notierte gewissenhaft die Bestellung, obwohl sie sie im Kopf behalten hätte, da die meisten Gäste bei dieser Affenhitze Bier oder Wasser bestellten.

»Das Bier wird uns noch zu Kopf steigen«, versuchte Giancarlo zu scherzen und meinte den Schnaps, mit dem er sich Mut antrank.

»Macht nix…«, antwortete Jacqueline, unterstrich es mit einem Lächeln, schob gedanklich nach: „Ich wollte, dass du mich ansprichst, nun weiß ich nicht mehr, was ich von dir will… nicht das, was man immer und jederzeit von allen kriegen kann. Und außerdem schwitze ich jetzt schon genug.“ Damit wischte sie sich die Schweißtropfen von der Stirn.

»Vielleicht sollten wir etwas essen gehen?« Giancarlo griff mit seiner Hand nach der ihren.

»Ja, vielleicht…« Sie entzog ihm ihre Finger mit einem Lächeln. Das Pils und der Schnaps standen im Nu auf dem Tisch. Der Mann hinter dem Ausschank arbeitete mit der Präzision eines Uhrwerks. Um diese Zeit stand ausreichend Vorgezapftes bereit, bei dem nur das Krönchen aufgetupft werden musste. Exakt sieben Minuten, die Uhr lief auch für diese Gäste. Giancarlo gab der Kellnerin ein großzügiges Trinkgeld.

Es blieb nicht bei dem Schnaps und dem einen Bier. Elsa Lind hatte inständig gehofft, dass die Gäste, besonders diese Frau, verschwinden würden. Sie wollte abkassieren und sich in Ruhe das Feuerwerk ansehen. Sehr nüchtern waren beide nicht mehr. Die Frau fasste sich an die Schläfen, rang auf einmal nach Atem, würgend erbrach sie ihre Magenflüssigkeit neben die Hosenbeine ihres Begleiters. Er zuckte zur Seite, bekam aber einige Spritzer ab.

»Das geschieht dir recht!«, flüsterte die Kellnerin gehässig in Jacquelines Ohr, legte einen Lappen auf den Tisch und eilte, bevor ihre Kundin antworten konnte, an die Theke. Jacqueline hielt das Gesicht nach unten. Die Kellnerin trug altmodische schwarze Sandalen. Abgetragen, schäbig und zerrissen. Jacqueline versuchte, sich auszubalancieren, und sah weiterhin stur zu Boden. Ihre schwarzen Haare verdeckten ihr Gesicht, in das sich lächelnd eine Fratze einbrannte. Giancarlo hatte nichts gehört. Sie spürte seine Hand auf ihrem Rücken.

Die Unpässlichkeit hatte die Kellnerin abgelenkt. Das Ehepaar mit der Verwandtschaft und den quengelnden Kindern war verschwunden, ohne zu bezahlen. Elsa wusste aus Erfahrung, dass der Mann jetzt bezahlen würde, dann war sie endlich alle los.

»Schönen Abend noch!«, flötete sie ihn an und sah ihnen erleichtert nach, als sie das Lokal verließen. Er blieb unter dem blauen Torbogen stehen und säuberte sein Hosenbein. Jacqueline nutzte diese Zeit, um sich aus den Augenwinkeln umzusehen.

Elsa ging zum Toilettenwagen, um sich zu erleichtern. Stieg die eisernen Stufen hinauf. Erna, die Klofrau, saß nicht in ihrer Ecke. Wahrscheinlich wäre Elsa zu einem anderen Zeitpunkt umgekehrt, aber die Natur forderte ihr Recht ein. Ähnlich erging es Jacqueline, die die Kellnerin nicht aus den Augen gelassen hatte.

»Ich geh‘ mal eben zur Toilette, ja? Muss mich frisch machen!« Sie wollte harmlos wirken, was ihr mit der Andeutung eines Lächelns gelang.

»Aber bitte!«, stimmte er zu, strich sich verlegen mit den Händen durch seine Haare. „Schöne Hände…“, dachte Jacqueline, als sie sich umdrehte und der Kellnerin in den Toilettenwagen folgte. „wie sie sich wohl auf der Haut anfühlen?“ Eine Braterei auf dem Weg verkaufte die Klassiker: Schaschlik am Spies, Pommes + Currywurst. Daneben gab es Kandiertes, überbackene Bananen, rote Liebesäpfel sowie weitere Plombenzieher und Kalorienbomber.

 

 

Fortsetzung folgt.

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Massaker, ein Cranger-Cirmes-Crimi von Barbara Ester und A.J. Weigoni, Krash-Verlag 2001

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In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen. Der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Dem Begriff Trash haftet der Hauch der Verruchtheit und des Nonkonformismus an. In Musik, Kunst oder Film gilt Trash als Bewegung, die im Klandestinen stattfindet und an der nur ein exklusiver Kreis nonkonformistischer Aussenseiter partizipiert. Lesen Sie auch das Kollegengespräch von A.J. Weigoni mit dem echten Bastei Lübbe-Autor Dieter Walter. Eine Würdigung von Massaker durch Betty Davis lesen Sie hier. Die Hörfassung unter dem Titel Blutrausch hören Sie in der Reihe MetaPhon. Als Tag für die Vorstellung dieses Cranger-Cirmes-Crimis war der 11. September 2001 vorgesehen.