Schwarze Witwe

 

Am Nachmittag wurde die Kirmes von Kindern überflutet. Sie gaben noch kein Geld aus, peilten die Lage und verglichen die Preise. Jacqueline saß im ersten Stock des Etagencafé Grell.

Von hier aus hatte man einen guten Rundblick über die Kirmes. Sie trank Kaffee und sinnierte darüber, warum ihr ein bürgerliches Leben mit Kindern, Ehemann und einem Haus, draußen auf dem platten Land, im Westfälischen…

Jacqueline hatte sich früher aus dem Kinderheim auf der Melanchthonstraße fortgestohlen, wann sie nur konnte. Hatte von jeher Kirmesarbeiter gemocht. Sah ihnen dabei zu, wie sie die Karussells aufbauten. Haut und Muskeln glänzten in der Sonne. Manchmal erinnerten sie diese Kerle an ihren Vater, der bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Dachte häufig an sein Lachen, seine Fröhlichkeit… hatte genetisch eher mehr von ihrer Mutter mitbekommen. Einer verschlossen kämpfenden Frau, darauf bedacht, die Waagschalen des Lebens von Glück und Unglück mit eigener Arbeit oder einem zufälligen Angebot im Lot zu halten.

Obschon begabt, entwickelte sich Jacqueline nach dem Tod des Vater, zu einem nickeligen, sturen Mädchen. Sie mochte das Raufen mit den Jungen. Nachdem die Bengel in einer anderen Gewichtsklasse kämpften, behauptete sie ihre Position unter den Mädchen gegen die beinahe zwei Jahre ältere Isabel mit einem trockenen Fausthieb gegen ihr Kinn. Jacqueline lachte über Isabels erstauntes Gesicht, als die Ältere zu Boden ging und begriff, dass die Konkurrentin nicht kratzen, beissen, spucken oder ihrer Rivalin die Haare büschelweise ausreißen wollte. Isabel hasste sie und versuchte, ihr mit Hilfe ihrer Freundinnen auf den einsamen Fluren des Kinderheims Fallen zu stellen.

Jacqueline war ständig auf eine Attacke gefasst. Ihr wurde klar, dass sich ein Zusammenstoß nicht vermeiden lassen würde. Da zu dieser Zeit Trenchcoats in waren, nähte sie ein biegsames Bambusrohr in den Innenteil ein, so konnte sie diese Waffe unauffällig hinter dem Rücken verstecken. Das war unbequem, aber effektiv zu handhaben, wenn es darauf ankam.

Als die Sportlehrerin nach der Turnstunde die Umkleide verlassen hatte, kreisten die Mädchen sie ein. Gerti, eine Verbündete Isabels, sprang sie wie ein Panther an. Jacqueline drehte sich gegen ihre Laufrichtung, zog das Bambusrohr und traf mit gezieltem Schlag voll auf die Omme.

Mit einer gebrochenen Nase verbrachte Gerti die nächsten Wochen im Krankenhaus. Frau Dr. Knispel, die Leiterin des Mädchenheimes, verhängte eben so lange Hausarrest und zusätzliche Näharbeit. Sie hätte Jacqueline am liebsten eine Tracht Prügel verabreicht, aber die Prügelstrafe war in Schulen und Heimen abgeschafft worden. Jacqueline war immer eine Quelle unliebsamer Störungen, die den Tagesablauf erschwerten und ihn zum Stillstand brachten. In einem Gespräch unter vier Augen blieb Jacqueline stumm und ausdruckslos. Sie stand dafür ein, zeigte aber nicht eine Spur von Reue.

»Du bist die Anführerin…«, ermahnte die Leiterin Jacqueline, »… das bedeutet, dass du mit gutem Beispiel vorangehen musst.«

Ihre Akte belegte, dass gerade dies der sozialethisch desorientieren Jacqueline schwerfiel. Sie nickte höflich, als sie das Büro der Heimleiterin verließ. Brannte mit Jay, einem englischen Soldaten, der von seiner Truppe desertiert war, durch. In einem gestohlenen Lkw unterwegs, verbrachten sie sieben Tage miteinander und tobten sich, ehe sie wieder auseinandergingen, in einem mörderischen Rausch aus. Grundlos, ohne Vorsatz, konnte Jackie ihren Instinkten eine Richtung geben. Während dieser sieben Tage hatte der Brite ein Mädchen überfahren, als Mutprobe, um ihr zu zeigen, wie man so etwas erledigt; eine Anhalterin hatten sie ausgenommen und in den Fluss geworfen, einen Taxifahrer ebenfalls ausgeraubt und anschließend ermordet. Jay wurde von den Gendarmen gefasst, sie entkam ins Ausland und entwickelte sich unter südlicher Sonne zu einer schwarzen Witwe.

 

 

Fortsetzung folgt.

***

Massaker, ein Cranger-Cirmes-Crimi von Barbara Ester und A.J. Weigoni, Krash-Verlag 2001

Weiterführend →

In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen. Der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Dem Begriff Trash haftet der Hauch der Verruchtheit und des Nonkonformismus an. In Musik, Kunst oder Film gilt Trash als Bewegung, die im Klandestinen stattfindet und an der nur ein exklusiver Kreis nonkonformistischer Aussenseiter partizipiert. Lesen Sie auch das Kollegengespräch von A.J. Weigoni mit dem echten Bastei Lübbe-Autor Dieter Walter. Eine Würdigung von Massaker durch Betty Davis lesen Sie hier. Die Hörfassung unter dem Titel Blutrausch hören Sie in der Reihe MetaPhon. Als Tag für die Vorstellung dieses Cranger-Cirmes-Crimis war der 11. September 2001 vorgesehen.