Massaker

 

Krunkelige Pflastersteine so weit das Auge reichte. Verstrebungen, Trampelpfade, Labyrinthe in ungepflegten Wiesen, wilder Löwenzahn und wucherndes Unkraut. Modergeruch. Geschichte, eingegraben in Staub. Das zusammengestürzte Schloss ließ man verkommen. Bergschäden. Die kleine Kirche hatte man später gebaut. Am frühen Morgen war hier nicht mehr zu sehen als ein Kohlenschiff, das im Schritttempo den Kanal entlang schipperte.

Ein Tennisball flitzte über die Pflastersteine. Fredo, der Bäckerjunge, dribbelte, ließ Günter, den Metzgerssohn, aussteigen, schoss und versenkte den Ball im Kasten von Jörg, dem Sohn des Wirts vom Cranger Hof. Der Keeper wollte den Ball wieder holen, bückte sich, fand im Gras ein Einwegfeuerzeug, ratschte und hielt es in die Luft, um es seinen Freunden Fredo und Günter zu zeigen. Wie auf ein abgesprochenes Zeichen hin begann Fredo damit, Papier zu sammeln. Günter suchte Holzstücke und Äste. Sie liefen über den Platz, lachten und johlten, hatten für die Roma, die auf dem Platz kampierten, nur Gespött übrig. Günter kletterte auf einen Baum, holte aus seiner Hosentasche eine Zwille und beschoss die Schäferhunde der Roma mit spitzen Steinen. Die Köter jaulten, zerrten an ihren Ketten. Die Jungen machten sich im eingestürzten Gemäuer des Schlosses eine Feuerstelle, brieten Kartoffeln, spülten den Geschmack mit Prickelbrause herunter.

Große Ferien können unendlich lang sein… Sie setzten sich auf die brusthohe Mauer, ließen die Beine baumeln und stierten auf die Gräber des kleinen Friedhofs. Das Läuten der Glocken kündigte eine Trauergesellschaft an, die sich zur Messe einfand. Die Bande lief über den Friedhof. Fand das frisch ausgehobene Grab. Sie stellten sich in Reih und Glied an die Grabstelle und pinkelten ins Erdloch.

»Der hat keine Langeweile mehr…«, glaubte Jörg, der Anführer. Der Sarg wurde an ihnen vorbei getragen, für einen Augenblick hatten sie den Eindruck, als hörten sie ein leises Lachen, von der alten Drude ausgestoßen, die an eben dieser Stelle vor fünfhundert Jahren auf dem Scheiterhaufen hatte sterben müssen. Die Rasselbande stob davon wie junge Füchse. Vorbei an den Wohnwagen der Roma, die ihre Hunde von der Leine gelassen hatten. Die Jungen brüllten vor Angst, rannten Richtung Kanal, wo sie ihre Kickboards abgelegt hatten. Die Hunde jagten sie. Schnappten ihnen in die Hosenbeine. Rechtzeitig pfiffen die Roma ihre Hund zurück.

Gegen Mittag, als die Sonne brütend heiß die Luft zum Flirren, das Unkraut zum Verdorren brachte, lag der große Platz unbehütet da; ein unvollendetes Werk.

Der Tag des heiligen Laurentius stand bevor. Der Pfarrer der Cranger Kirche ließ die Glocken zum Mittagsgebet länger läuten. Ein LKW fuhr auf das Brachland. Männer in blauer Monteurkleidung stiegen aus, tasteten mit den Sohlen den Boden ab, maßen mit ihren Schritten den Platz aus. Geblendet von der Sonne hielten die Malocher die Hand schützend über ihre Augen, bis sie erahnten, was vor ihnen lag: Fahrgeschäfte, Budengassen, bunte Stände.

»Nur noch sieben Tage… dann geht‘s endlich los«, brummelte Reiner Kauss, der Chefmechaniker. Sein Kollege kratzte sich das unrasierte Kinn und stimmte zu:

»Übermorgen dreht sich das Riesenrad bereits zur ersten Probefahrt.«

 

 

 

Fortsetzung folgt.

***

Massaker, ein Cranger-Cirmes-Crimi von Barbara Ester und A.J. Weigoni, Krash-Verlag 2001

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In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen. Der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Dem Begriff Trash haftet der Hauch der Verruchtheit und des Nonkonformismus an. In Musik, Kunst oder Film gilt Trash als Bewegung, die im Klandestinen stattfindet und an der nur ein exklusiver Kreis nonkonformistischer Aussenseiter partizipiert. Lesen Sie auch das Kollegengespräch von A.J. Weigoni mit dem echten Bastei Lübbe-Autor Dieter Walter. Eine Würdigung von Massaker durch Betty Davis lesen Sie hier. Die Hörfassung unter dem Titel Blutrausch hören Sie in der Reihe MetaPhon. Als Tag für die Vorstellung dieses Cranger-Cirmes-Crimis war der 11. September 2001 vorgesehen.

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