1. Welttag der Poesie

 

Ab heute wird jedes Jahr der Welttag der Poesie gefeiert. Er soll an „die Vielfalt des Kulturguts Sprache und an die Bedeutung mündlicher Traditionen erinnern“. Der Gedenktag soll auch dazu beitragen, dem Bedeutungsverlust der Poesie entgegenzutreten. Im 19. Jahrhundert seien, so der Literaturwissenschaftler Nikolas Immer, 20.000 Lyriksammlungen allein im deutschsprachigen Raum veröffentlicht worden – eine Zahl, die inzwischen utopisch erscheint. Mit dem Aktionstag soll gezeigt werden, dass die Poesie auch im Zeitalter der neuen Informationstechnologien einen wichtigen Platz im kulturellen und gesellschaftlichen Leben einnehmen kann.

Tom Täger und A.J. Weigoni kommt das Verdienst zu, die Lyrik nach 400 Jahren babylonischer Gefangenschaft aus dem Buch befreit zu haben.

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Jede Generation hat eine eigene Vorstellung davon, was ein Album ist, ihnen ist die Erzählung am Wichtigsten, das Tonträgerformat ist eine Limitierung. Der erste Schriftsteller, der den künstlerischen Wert der CD* erkannte war A.J. Weigoni. In 1991 produzierte er mit dem Komponisten Frank Michaelis die LiteraturClips auf CD (der Claim Hörbuch war noch nicht abgesteckt) realisierte, und das für das Label Constrictor, weil die großen Verlage weiterhin die Compact Cassette für das Medium der Zukunft hielten. Es gibt nicht wenige, die haben Weigoni für verrückt gehalten.

Diese Titelgebung ist reinste Camouflage, gleichzeitig markieren die zwischen 1991 entstandenen LiteraturClips und den bis 1995 entstandenen Top 100 den Höhepunkt und die wahre Sprengung der Pop-Literatur. Manche Künstler sind ihrer Zeit voraus. Besonders dann, wenn sie Dinge sichtbar machen, die die meisten Menschen nicht wahrnehmen oder ignorieren. Eine Konfrontation der Ästhetiken der digitalen Medien mit dem Kassettenuntergrund erweist zweierlei: Zum einen, daß das Pensum, das eine digitale Ästhetik für sich reklamiert, bereits von den avancierten Werken der Analog­epoche überboten wurde, zum andern, daß die Theoretiker einer digitalen Ästhetik die Entwicklung der Technologie notorisch einem ästhetischen Fortschritt gutschreiben. Die Stichworte dieser Fortschrittsvorstellung sind allzu bekannt: Interaktivität, Synergie von Mensch und Maschine, Ende der Gutenberg–Galaxis. Wie einst die politischen Losungen ihre Weihe aus einem Erlösungspathos bezogen, so eignet auch den Verheissungen der Ästhetiker des Digitalen ein quasi-religiöses Pathos. Die Erfindung des LiteraturClips war nicht eine einzelne große Erfindung, sondern die Konvergenz vielfacher und zuweilen auch erfolgloser Schritte der Zuhandenheit. Somit kommt diesen Hörbuchpionieren das Verdienst zu, die Lyrik nach 400 Jahren babylonischer Gefangenschaft aus dem Buch befreit zu haben. Eitelkeit scheint ihnen ob dieses literaturhistorischen Beitrags fremd, es sei denn, es gäbe eine Eitelkeit des uneitlen Betragens. Das ganze Gewese des deutschen Literaturbetriebs und der Wortverwertungsindustrie prallt an ihnen ab.

Tonstudio an der Ruhr, historische Aufnahme – Das Urheberrecht für dieses Photo liegt bei Andreas Mangen.

Weiterführend

Als Tom Täger 1989 im Tonstudio an der Ruhr Helge Schneiders erste Schallplatte Seine größten Erfolge produzierte, hat man ihn gleichfalls für verrückt gehalten. Es ist im Nachhinein fast zwangsläufig, das sich diese beiden Artisten über den Weg laufen mussten. 1995 begann mit Verquarzte Tage ihre Zusammenarbeit, die in 2015 mit dem Hörbuch Gedichte einen sinnfälligen Zirkelschluß finden wird, zu dem Täger als Hörspielkomponist mit Señora Nada eine Musik der befreiten Melodien zelebiert.

*Erst in 1993 schlossen sich mehrere bekannte belletristische Verlage zusammen (unter anderem Suhrkamp, Hanser und Rowohlt und gründeten den Hörverlag (DHV) in München um das Audiobuch auf CD zu vermarkten.

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