Eine Erinnerung an Marie-Thérèse Kerschbaumer

 

An jedem Dienstag Abend, oft bis spät in die Nacht hinein, war im Keller der Wiener Secession ein Künstlertreffen, quer durch alle Sparten, Maler, Dichter, Musiker. Lebenskünstler waren wir alle, weil die meisten von uns mit wenig Geld ihr Auslangen finden mußten. Bei diesem Treffen gab es Bier und billigen Wein sowie Würstel und Bohnen- oder Gulyassuppe. Was es gab und wer zu diesem Treffen herein durfte, das bestimmte der Galeriemitarbeiter Max, die eigentliche Autorität der Secession; wen er mochte, der durfte herein, wen er auf den ersten Blick nicht mochte oder nicht kannte, der durfte nicht herein, außer ein anderer Künstler „bürgte“ für ihn oder für sie. Das alles war in den frühen Siebzigerjahren, als noch nicht alle Künstler so zurückgezogen waren wie heute und es noch Freundeskreise unter ihnen gab. Dort also, in diesem Secessionskeller lernte ich die Frau Dr. Marie-Thérèse Kerschbaumer kennen. Wir saßen zufällig an einem Tisch und kamen so ins Gespräch. Sie war schon eine bekannte Dichterin, ich war sozusagen noch niemand. Über die Frage „Was schreibst du?“ kam man sich näher; manchmal entstand daraus ein gewisses Zusammengehörigkeitsgefühl. Ich erinnere mich jedenfalls gut an diese Begegnung. Die Dichterin war immer sehr stilvoll und fein, ja elegant gekleidet. Das war damals so, das ist bis heute so geblieben. Und sie drückte sich sehr gewählt aus, sprach Hochdeutsch mit einer leichten Färbung in ihrer Umgangssprache. Fasziniert hat mich, daß sie auch in Kuba aufgewachsen war. Ich empfand das als etwas Geheimnisvolles. Ich weiß bis heute nicht, was der Grund dafür war. Und ich belasse es bei diesem Nichtwissen, bei dem Geheimnis. Etwas von dem mußte sich auch auf ihre Person übertragen haben, auf ihr Auftreten, auf ihre Umgangsformen, auf ihren Lebensstil. Denn sie war und ist – obwohl „der Linken“ zugehörig – keine von den üblichen ideologischen MitläuferInnen, sondern eine absolut kritische Intellektuelle und darüber hinaus eine Dame. Sie flößt/e Respekt ein; jedenfalls mir. Und so ist es für mich bis heute geblieben. Ich schätze sie sehr. Einige Zeit waren wir zusammen im Vorstand der IG Autorinnen Autoren und haben zusammen mit dem leider schon verstorbenen Arthur West und dem Hellmut Butterweck so manche Präambel oder Resolution formuliert. Da lernt man auch jemanden näher kennen. Und dann gab es einige auch private Telefonate. Aber stets war eine gewisse vornehme Distanz zwischen uns, etwas wie eine unsichtbare Grenze, die trotz weltanschaulicher Gemeinsamkeit und Kollegialität keiner von uns beiden je überschritten hätte. Und sie schreibt das, was man anderswo noch Poesie nennt; und was diese Bezeichnung auch zu Recht verdient. Sie ist eine wirkliche Dichterin, auch darin eine absolute Individualistin. Und sie steht – auch wenn sie irgendwo mitten drin ist und sich für dieses oder jenes engagiert – stets in einer gewissen Distanz über allem darüber.

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Schriftstellerbegegnungen 1960-2010 von Peter Paul Wiplinger, Kitab-Verlag, Klagenfurt, 2010

Wiplinger Peter Paul 2013, Photo: Margit Hahn

Weiterführend → KUNO schätzt dieses Geflecht aus Perspektiven und Eindrücken. Weitere Auskünfte gibt der Autor im Epilog zu den Schriftstellerbegegnungen.
Die Kulturnotizen (KUNO) setzen die Reihe Kollegengespräche in loser Folge ab 2011 fort. So z.B. mit dem vertiefenden Kollegengespräch von A.J. Weigoni mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier. Druck und Papier, manche Traditionen gehen eben nicht verloren.

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