Eine Erinnerung an György Sebestyén

 

Ein anderer, ebenso viel zu früh verstorbener Freund war der ungarisch-österreichische, aus einer katholisch-jüdischen Familie stammende Schriftsteller, Kulturjournalist, Chefredakteur und ehemalige Präsident des Österreichischen P.E.N.-Clubs György Sebestyén. Er hatte Ethnologie studiert. Nach der von der Sowjetarmee niedergeschlagenen Ungarn-Revolution von 1956 war er nach Wien geflohen und wurde hier vom Österreichischen P.E.N.-Club aufgenommen und betreut, was eine lebenslange enge Beziehung zum PEN zur Folge hatte, sodaß er schließlich auch zum Präsidenten gewählt wurde. Als solcher organisierte er wichtige internationale Europäische PEN-Regionalkonferenzen in Wien, zu der viele KollegInnen aus den ehemaligen Ostblockstaaten kamen. Überhaupt baute Sebestyén wichtige Brücken, auch durch die Kulturzeitschriften „Pannonia“ und „morgen“. Er gründete den „Morgen-Kreis“, eine wichtige Kulturinitiative, aus der sich eine Gemeinschaft von Künstlern, Wissenschaftlern und Intellektuellen bildete, in dessen Zentrum von 1980 bis 1990 Sebestyén stand. Sebestyén hatte auch die besondere Gabe, die richtigen Menschen zusammenzubringen und miteinander bekannt zu machen. Er erkannte aufgrund von Anzeichen oder ganz einfach intuitiv, welche Personen sich etwas zu sagen haben oder einander sympathisch sein könnten, zwischen wem eine Verbindung hergestellt werden sollte oder könnte und zwischen wem wohl eher nicht. Jedes zweite Jahr trafen wir – eine Gruppe von etwa 80-100 Personen – zu einem Symposium an verschiedenen Orten in Niederösterreich zusammen, um über grundsätzliche Probleme des Menschen und Fragen der Zeit nachzudenken, zu reflektieren, miteinander zu diskutieren. Auch die Zeitschrift „Pannonia“ sowie die Kulturseite der „Furche“, die Sebestyén redigierte, waren ein Ort der Begegnung. Ganz besonders aber der von mir initiierte „Morgen-Kreis-Stammtisch“ an jedem Montag Abend im Gasthaus „Zu den drei Hacken“ in der Singerstraße im ersten Bezirk in Wien. Der funktionierte zwei bis drei Jahre sehr gut. Innerhalb des Morgen-Kreises bildeten sich wiederum kleine Gruppen, auch Freundschaften wurden so begründet. Ich hatte auf dieser Schiene sowie auf der PEN-Ebene, aber auch privat meine Beziehung zu Sebestyén.

Eine Zeitlang trafen wir uns an fast an jedem Sonntag-Nachmittag ab 16 Uhr im legendären „Weinhaus Rieder“ beim Wiener Rathaus. Wenn es warm und das Wetter schön war, saßen wir stundenlang unter den Arkaden im Gespräch bei Brot und Wein und einem Klumpen Parmesan, den Sebestyén in seiner Rocktasche mitbrachte und den wir mit meinem Taschenmesser zerteilten. Man konnte mit Sebestyén sehr gut reden. Gespräche hatten eine große Spannbreite, von einer leichten Plauderei bis zu tiefen philosophischen Betrachtungen über den Menschen, das Leben und die Welt. In einer unnachahmlichen umsichtigen Weise und mit druckreifen Formulierungen machte Sebestyén seine Ausführungen oder, wenn ich etwas in meiner Art und Weise – immer emotionalisiert und heftig – sagte, seine Einwände, korrigierte mich mit den aus seinen gründlichen Überlegungen resultierenden Argumenten, oft aber auch mit einem „Schau, Peter, das könnte man ja auch so oder so sehen!“ Er versuchte stets, mich zu beschwichtigen. Er war auf Ruhe und Beruhigung, auf Harmonie und Harmonisierung der Gegensätze aus, ich aber war und bin ein Mensch der Konflikte, der Auseinandersetzung, der Heftigkeit, der Emotionalität, die sich oft in Ausbrüchen kundtut. Sebestyén hingegen war ein Weiser, er war ein Mann des Ausgleichs, er wollte Toleranz und Frieden. Gegen Mitternacht, wenn Sperrstunde war und der Wirt als sein bester eigener Gast manchmal schon genauso betrunken war wie wir nach meist drei oder vier Vierteln Wein, dann brachen wir auf. Ich begleitete Sebestyén noch ein Stück des Weges, er wohnte damals schon in der Auersperggasse an der sogenannten Zweierlinie. Ich sagte: „Adieu! Jetzt ist es aber Zeit zum Schlafen!“. Worauf er des öfteren erwiderte: „Ich muß jetzt noch was arbeiten.“ Sebestyén vertrug einiges. Er ging auch nach drei oder vier Vierteln Wein noch kerzengerade, manchmal vielleicht mit einem kaum bemerkbaren Wanken nach Hause. Ich ging auf dem Heimweg meist noch auf ein „Drüberstreuerachterl“ irgendwohin, wo man noch offen hatte, wenn ich genug Geld dafür übrig hatte, was nicht selbstverständlich und nicht immer der Fall war.  Einmal sind der Sebestyén und ich beim Besuch einer „Dame“ – er bezeichnete die Frauen ganz allgemein stets als „ die Damen“ – vom Wohnzimmer eines Ateliers aus auf das Dach gestiegen und haben dionysisch-euphorisch und volltrunken den Sonnenuntergang von dort aus beobachtet. Das war eindrucksvoll, ja überwältigend, der Augenblick ist mir unvergeßlich.

Dann trennten sich unsere Wege, für eine lange Zeit, eigentlich bis zu seinem Tod. Drei Tage davor rief mich Sebestyén aus dem Spital an, mit sehr müder Stimme, langsam Wort für Wort sprechend. Wir sprachen ganz kurz miteinander. Seine letzten Worte, mit denen er sich von mir für immer verabschiedete, waren: „Gott behüte Dich, Peter!“ Von seinem Tod erfuhr ich in den Mittagsnachrichten aus dem Radio, als ich mit meinem Auto gerade die Triesterstraße stadteinwärts fuhr. Nicht lange danach haben wir ihn in einem Ehrengrab auf dem Zentralfriedhof begraben.

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Schriftstellerbegegnungen 1960-2010 von Peter Paul Wiplinger, Kitab-Verlag, Klagenfurt, 2010

Wiplinger Peter Paul 2013, Photo: Margit Hahn

Weiterführend → KUNO schätzt dieses Geflecht aus Perspektiven und Eindrücken. Weitere Auskünfte gibt der Autor im Epilog zu den Schriftstellerbegegnungen.
Die Kulturnotizen (KUNO) setzen die Reihe Kollegengespräche in loser Folge ab 2011 fort. So z.B. mit dem vertiefenden Kollegengespräch von A.J. Weigoni mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier. Druck und Papier, manche Traditionen gehen eben nicht verloren.