Freiraum

Als Angelika Janz im Rheinland in den 70er Jahren erste Schritte in die Literatur- und Kunstszene unternahm, lehrte in Düsseldorf Joseph Beuys, in der Kunst wurden nicht die Schlachten des 19. Jahrhunderts geschlagen, sondern zwischen Pop Art und Fluxus wurde im Zukunftslabor gearbeitet – an den Hochschulen, in den Werkstätten und auf der Straße. In Zeitschriften wie Sprache im technischen Zeitalter wurde nicht (wie heute) Kanon verwaltet, sondern Zukunft gesucht. Serendipity hieß ein Schlagwort damaliger Debatten – Angelika Janz beteiligte sich mit einem Statement und sah ihre Fragmenttexte als ein mögliches Verfahren in diesem Rahmen.

Im Jahre 1993 konstatierte Michael Glasmeier in einem Text über ihre Fragmenttexte den Abbruch des Experiments: was ich von der Literatur erwarte – Experiment, längeres Gedankenspiel, Zeitgenossenschaft, Grenzgängertum –, scheint sich in ein merkwürdiges statisches Gejammer, in eine weinerliche, selbstbezogene Enge verkrochen zu haben. Und in diesem Kontext sah er in ihren Fragmenttexten den Beleg, dass trotz des langsamen Verglühens der Konkreten und Visuellen Poesie Ende der 70er und der konservativen Haltung von Feuilleton und Literaturwissenschaft ein Freiraum für Experimente fortbestehe.

Avantgardistische oder experimentelle Kunst wird oft als schwer verständlich empfunden. Selbst in den meist im Internet geführten Debatten junger Autoren geistert das Gespenst einer unverständlichen, akademischen Kunst herum. Dieser Zustand hat mehr als eine Ursache – man müsste nach dem Deutsch- und Kunstunterricht ebenso fragen wie nach Paradigmenwechseln in den Theoriedebatten der letzten Jahrzehnte sowie nach sozialen Bedingungen der arbeitsteiligen Gesellschaft. Leicht zu zeigen wäre aber, dass ihm auch ein fundamentales Missverständnis zugrunde liegt, das in den Institutionen (Schule, Wissenschaft und Medien) weitergetragen wird. Wesentliche Teile der Avantgarde des 20. Jahrhunderts waren von dem Bestreben getragen, Kunst und Lebenswelt zusammenzuführen. Namentlich der konkreten und visuellen Poesie eignet ein eminent demokratischer Grundzug. Einer der Gründe, warum sich dort entwickelte Verfahren in der Werbung verbreitet haben. Wenn man in der Schule lernen würde, den eigenen Sinnen zu trauen, anstatt krampfhaft nach einer in der Tiefe verborgenen Bedeutung zu suchen, wäre viel gewonnen.

Die heute modisch gewordene Schreibung mancher Worte mit Großbuchstaben in der Mitte, wie beim taz-„I“ in AutorInnen oder wie eben beim ZuFall ist technisch gesehen eine Verfremdung, die uns das automatisch Gewordene und daher nicht mehr Wahrnehmbare in den Worten wahrnehmen lässt. Das Wort FragMentalität (so der Titel einer Notiz) überlagert die Bedeutung des Wortes Fragment mit den Worten Frage und Mentalität. So findet mitten im Wort eine Diskussion statt. Solchen Worten begegnet man im vorliegenden Buch öfter. „Deutschwund“ kann man verschieden lesen. Ist das “Deutsch-wund“, also wund am Deutschsein? Oder vielleicht „Deut-Schwund“: entzieht sich uns die Bedeutung? Anders als oft in der Schule gilt hier immer: beides zugleich. Nicht Einfalt, sondern Vielfalt führt weiter.

Dabei fällt auch auf, dass diese Schreibweise (diese SchreibWeise) ebenfalls Fragmentcharakter hat. Das Wort zerfällt in zwei oder mehr Fragmente verschiedener Herkunft, die zusammentreffen und eventuell neue Sinnmöglichkeiten eröffnen.

Aus dieser Mehrfachlesbarkeit erklärt sich auch, warum Angelika Janz die Grenzen zwischen Fremd- und Eigentext bewahrt. Man könnte ja den so entstandenen Text abschreiben – vielfach könnte man das Ergebnis nicht von ihren „richtigen“ Gedichten unterscheiden. Die Wunde im Textkörper erinnert an die Disparatheit der Elemente, die diesen Text formten, und erschwert eine allzu glatte und eindimensionale Lesart. An ihre Stelle tritt „der Deutung Vielraum“ (vgl. „Den Sinn, den Stoff, die Worte“ in diesem Band).

 

 

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Quelle: tEXt bILd. Ausgewählte Werke 1: Visuelle Arbeiten und Essays von Angelika Janz. Greifswald: freiraum-verlag 2012.

Weiterführend →

Lesen Sie auch das Kollegengespräch, das A.J. Weigoni mit Angelika Janz über den Zyklus fern, fern geführt hat. Vertiefend ein Porträt über ihre interdisziplinäre Tätigkeit, sowie einen Essay der Fragmenttexterin. Ebenfalls im KUNO-Archiv: Jan Kuhlbrodt mit einer Annäherung an die visuellen Arbeiten von Angelika Janz. Und nicht zuletzt, Michael Gratz über Angelika Janz‘ tEXt bILd