Tempus fugit

 

Das Licht strömt aus unserer Mitte und vibriert, es fließt oder schlägt Wellen von einem zum andern. Der Himmel verliert sein letztes Blau. Jetzt ist er ganz schwarz, so schwarz, als wäre er gar nicht da, wie das Nichts vielleicht, ein Doppeltes, es ist da und es ist nicht da. Der Himmel macht die Augen auf und zu.

Please would you tell me, said Alice a little timidly, for she was not quite sure, whether it was good manners for her to speak first, why the heaven grins like that, it’s a Cheshire-Cat, said the Duchess and that’s why.

Es ist über uns, und es umschließt uns von oben, wir stehen mittendrin. Frage und Antwort sind im Hinblick auf das Nichts gleicherweise in sich widersinnig. Ich bin nicht tot, ich bin allein. Ich gehe auf weiß-gelbem Sand, auf Kies, auf rötlicher Tonerde.

Neben mir geht ein Kind, hallo, es fasst die grünen Blätter an, die viel zu groß sind, und reißt sie vom Baum. Was tust du da? Ich spiele. Das ist kein Spiel. Doch. Nein. Doch, alles ist ein Spiel. Ja, Spiele sind immer ernst, sie sind genau.

Plötzlich sind Körbe da, sie stehen zwischen den Bäumen in der schwarzen Luft, in einem Riesengewölbe ohne Wände.

Das Kind pflückt Blätter über Blätter von den rotweiß blühenden Bäumen in diesem so barock geordneten Hirnkrautwald. Andere Kinder laufen in den Blätterwald.

Was tut ihr da? Wir pflücken, wir pflücken. Wozu? Wir ernten das Leben. Wer träumen will, muss essen. Warum? Du bist dran.

Nun fange ich selber an die herzförmigen Blätter zu pflücken, die Lippenblütler unter dem Kreuz von Golgatha, das Öl des Himmelfahrers.

Ich fülle die Körbe zwischen den Bäumen in den schwarzen Töpfen mit dem Hirnkraut. Schwarz in Schwarz stehen sie da, sie fallen aus dem Nichts.

Wir gehen und gehen durch das Schwarze.

Jetzt bin ich ganz allein. Ich sehe den kleinen Jungen nicht mehr. Ich pflücke und pflücke die Angst. Ich will die Blätter gegen das tödliche Gift des Basilisken mit den Feueraugen. Die Angst offenbart das Nichts im Garten ohne Himmel, die Angst verschlägt uns das Wort. Ich pflücke und pflücke das Hirnkraut, als haftete ich im täglichen Dahintreiben am Sein, als sei ich sonst verloren. So aufgesplittert erscheint der Alltag, dass ich in der Unheimlichkeit der Angst die leere Stille durch wahlloses Reden zu brechen suche.

Gegenwart des Nichts, das ist der Triumph des Nichts, wenigstens des Noch-nicht-Gewordenen des Seins, das nie werden kann, das aber werden will und im Andersgewordensein vielleicht aufscheint, und ich sehe nicht, was ich sehen will, mich selbst nicht und nichts sonst, was ich nur ahnte und nicht benennen kann. Ich sehe keinen Baum ohne Blätter, und ich wundere mich nicht über das Waldall.

Mir wächst, kaum habe ich den vollen Korb mit Hirnkraut zwischen die schwarzen Töpfe in die schwarze Luft gestellt, immer wieder ein neuer Korb aus der Hand.

Die Nacht schält mein rechtes Auge schmerzlos heraus. Vielleicht habe ich ein Auge zuviel. 

Ich denke mir, wie ich mit dem linken schaue, was ich mit dem rechten nicht sehe, und fühle mich blind, obwohl ich sehe. Sind meine Bilder, wenn die Nacht kommt, blind?

 

 

***

Gionos Lächeln, ein Fortsetzungsroman von Ulrich Bergmann, KUNO 2022

Vieles bleibt in Gionos Lächeln offen und in der Schwebe, Lücken tun sich auf und Leerstellen, man mag darin einen lyrischen Gestus erkennen. Das Alltägliche wird bei Ulrich Bergmann zum poetischen Ereignis, immer wieder gibt es Passagen, die das Wiederlesen und Nochmallesen lohnen. Poesie ist gerade dann, wenn man sie als Sprache der Wirklichkeit ernst nimmt, kein animistisches, vitalistisches Medium, sondern eine Verlebendigungsmaschine.

Weiterführend →

Eine liebevoll spöttische Einführung zu Gionos Lächeln von Holger Benkel. Er schreib auch zu den Arthurgeschichten von Ulrich Bergmann einen Rezensionsessay. – Eine Einführung in Schlangegeschichten finden Sie hier.