´68, das spiegelverkehrte 89`

Die Revolution ist gerade die Einführung der Idee in die geschichtliche
Erfahrung, während die Revolte nur die Bewegung ist,
die von der Erfahrung des Einzelnen zur Idee führt.

Albert Camus

Ein Zeitzeichen von KUNO zum internationalen „Kampftag der Arbeiterklasse“. Die Jahreszahl ´68 galt als Symbol des Widerstands gegen eine alte, als überkommen wahrgenommene Ordnung. Die große historische „Leistung“ der narzisstischen Besserwisser – die sich selbstbesoffen zu einer Generation verklärten – war eine Einübung in das Nein-sagen. Nicht auf kommunaler Ebene oder im Landtag etwas anders machen, sondern gleich irgendwie „Alles“ infrage stellen. 1968 fand jedoch keine „Revolution“ statt, es war eher ein Aufstand der Unanständigen. Die vermeintlich antiautoritären 68er redeten einem Gruppenegoismus und Gruppenautoritarismus das Wort, die mit freiheitlichem Denken unvereinbar sind.

Eine Zeitdiagnose des begleitenden Beobachters Hans Magnus Enzensberger:

„Jetzt also hören wir es wieder läuten, das Sterbeglöcklein für die Literatur. […] Der Leichenzug hinterlässt eine Staubwolke von Theorien, an denen wenig Neues ist. Die Literaten feiern das Ende der Literatur. Die Poeten beweisen sich und andern die Unmöglichkeit, Poesie zu machen. Die Kritiker besingen den definitiven Hinschied der Kritik. Die Bildhauer stellen Plastiksärge her für die Plastik. Die ganze Veranstaltung schmückt sich mit dem Namen der Kulturrevolution, aber sie sieht einem Jahrmarkt verzweifelt ähnlich. Die Sekunden, in denen es Ernst wird, sind selten und verglimmen rasch. Was bleibet, stiftet das Fernsehen: Podiumsdiskussionen über Die Rolle des Schriftstellers in der Gesellschaft.“

Der lange Marsch durch die Institutionen führte zur Autodestruktion des kritischen Potentials. Nach dem nach dem „Fall“ der Berliner Mauer riefen die Feuilletons eine neue Ära der deutschen Literatur aus.

A.J. Weigoni beschreibt die 1989er in seinem Roman Abgeschlossenes Sammelgebiet so:

„Es gab für sie nie freie Kunst, eine Kunst fernab von Politik und Ideologie. Sie verachtet das Elitäre in der Kultur. In diesem Sinne sind die 68–er die legitimen Kinder Lenins, Stalins und Maos, die für die „Kunst für das Volk“ stritten und gegen die Kunstreligion l’art pour l’art. Die Früchte dieser Kulturpolitik sind für Anne offensichtlich: brennende Langeweile. In westdeutschen Theatern werden Routinestücke gespielt, Zeitungen bringen langweilige Artikel, Filme sind öde, die Fernsehprogramme zum Einschlafen. Staatsfern und lebensnah. Es liegt ihrer Ansicht nach daran, dass ost– und westdeutsche 68–er jeweils das erreicht haben, was sie gar nicht wollten. Die westdeutsche Linke träumte von einer Revolution und bewirkte eine gesellschaftliche Reform. Die Dissidenten kündigen die Teilhabe an der Sozialismus genannten Fiktion auf und durchbrachen den indirekten Pakt mit den kommunistischen Machthabern.“

 

***

Weiterführend →

Zur historischen Abfolge, eine Einführung. Eine Annäherung von Angelika Janz finden Sie hier. Eine Rezension von Jo Weiß findet sich auf kulturaextra. Beim vordenker entdeckt Constanze Schmidt in diesem Roman einen Dreiklang. Auf Fixpoetry arbeitet Margretha Schnarhelt einen Vergleich zwischen A.J. Weigoni und Haruki Murakami heraus. Eine weitere literaturhistorische Parallele zog die KUNO-Redaktion zu Jahrestage. Ein Hintergrundgespräch findet sich auf der Lyrikwelt. Den Klappentext, den Phillip Boa für dieses Buch schrieb lesen Sie hier.  Einen Essay lesen Sie bei Buecher-Wicki.

Sondermarke von 1969, abgestempelt am 9. November 1989

Abgeschlossenes Sammelgebiet, Roman von A. J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2014 – Limitierte und handsignierte Ausgabe des Buches als Hardcover

Bestellungen über: info@tonstudio-an-der-ruhr.de