Der Vernaderer

 

Fast an jedem Abend, nach Einbruch der Dunkelheit, manchmal auch mitten in der Nacht, ging er, vor allem im Hochsommer, wenn der Tag sehr heiß gewesen war, und man nachts zur Kühlung beim Schlafen die Fenster geöffnet hatte, auf der Sonnenseite des Marktes spazieren. Er tat jedenfalls so, als würde er nur spazieren gehen, weil er nicht schlafen konnte. In Wirklichkeit aber ging er wie gesagt auf der „Sunnseitn“ des Ortes auf dem gepflasterten Gehsteig auf und ab und blieb immer wieder unter einem geöffneten Fenster stehen; und horchte.

Er horchte, ob er aus einem Radiolautsprecher vielleicht eine Stimme oder Musik von einem sogenannten „Feindsender“ hören könnte, was strengstens und bei hoher Strafe verboten war. Er kannte schon seine „Schäfchen“, wie er sie insgeheim titulierte. Und diese waren ihm verhaßt; und er verfolgte sie: mit seinem Haß, mit seiner Spitzelei, mit seinem Eifer, mit seinem Hang zur Denunziation, in seiner Ergebenheit, dem Naziregime zu dienen.

Viel Erfolg konnte er in dem kleinen Ort zwar sowieso nicht haben, aber umso eifriger betrieb er sein Spitzeltum, ging er dieser Beobachtung mit anschließender Vernaderung nach; denn dies entsprach nicht nur seiner Begeisterung für das Nazitum, sondern auch seinem Wesen, seinem Charakter, seiner Falschheit, seiner Feigheit, seiner Hinterfotzigkeit, wie manche das nachher nannten; vielleicht weil er in die Ortsgemeinschaft nicht wirklich integriert, weil möglicherweise von irgendwoher zugewandert war; er sprach ja auch nicht in unserem Dialekt, sondern er versuchte sich in einem etwas gekünstelt und somit lächerlich wirkenden Hochdeutsch; aber das taten ja auch andere, die im Deutschen Reich deutsch sein wollten, ihr Deutschtum zeigen wollten, nach dem Motto: je deutscher desto besser. Man hatte ja da ein Vorbild als Österreicher, pardon: als Ostmärker, nämlich den Führer Adolf Hitler.

Dieser Vernaderer ging also zu späten Stunden und manchmal mitten in der Nacht, meist nach 22 Uhr (denn da wurden die Feindsender ja aktiv), auf der Sonnenseite auf und ab und versuchte, Delinquenten ausfindig zu machen, die Feindsender hörten oder die er verdächtigen konnte, daß sie Feindsender hörten; denn eine Verdächtigung und somit ein – in der Regel überhaupt nicht begründeter – Verdacht reichten ja auch schon zur Meldung. Und dieser Pflicht kam er gehorsam, mit Ergebenheit, ja mit Begeisterung nach. Er wollte ja auch „wer sein“, wie man bei uns sagt; denn ansonsten war er ja vorher und nachher nichts, nur ein Niemand, ein erfolgloser Cafetier mit einem kleinen Café in einem kleinen Ort, sozusagen am Rande der Zivilisation.

Aber eine „Kundschaft“ hatte er im Ort, eine sichere Anlaufstelle, wo oft, ja regelmäßig Feindsender gehört wurden, noch dazu in der Sprache des Feindes, nämlich in Englisch; von dem er zwar kein Wort verstand, aber das war auch nicht nötig. Diese Anlaufstelle war das Doktorhaus, die Villa des ihm sowieso verhaßten Gemeindearztes Dr. Kaufmann, der alles andere als ein Nazi war. Dessen Frau, eine für diesen Ort viel zu mondäne Dame, die ihre Extravaganz, d.h. ihr völliges Anderssein in der Öffentlichkeit stolz zur Schau trug. Dieses Anderssein entsprach nicht nur ihrem Wesen, ihrem Wollen, sondern war auch ein Akt des Protestes gegen die überall verbreitete Normierung und Gleichmacherei im NS-Staat. „Die Frau Dr. Kaufmann“, wie sie respektvoll genannt wurde, war nicht nur eine mondäne Dame, sondern eine emanzipierte Frau; und das schon damals, als es den Begriff Emanzipation noch gar nicht gab, in der Soziologie, in den Medien, in der Gesellschaft. Die Frau Dr. Kaufmann war auch sehr gebildet; sie kam ja aus der Stadt. Sie besaß – zusammen mit ihrem Mann, der aber einfacher, schlichter, leutseliger, weil ein Einheimischer war – viele Bücher, die sie auch gelesen hatte, denn manchmal sprach sie von einem Buch und was in dem oder jenem drinnen stünde und wer dies oder jenes gesagt, d.h. niedergeschrieben hätte, was für sie Gültigkeit hatte, wodurch sie sich in ihren Ansichten und Meinungen bestätigt fühlte. Und diese Frau, die wie so nebenbei sieben oder noch mehr Kinder hatte, die sie alle  – wie das heutzutage heißt – antiautoritär erzog, diese Frau Dr. Kaufmann hörte regelmäßig Feindsender, meist ab zehn Uhr am Abend oder mitten in der Nacht; und das bei geöffneten Fenstern. Und dies anscheinend völlig unbekümmert, um nicht zu sagen provokativ. Denn ihre Devise war: „Was ich wann wo und wie höre, geht niemanden etwas an.“ Sie ließ sich ja sowieso von niemandem und überhaupt keine Vorschriften machen, denn sie haßte Vorschriften; auch als Eingriff in die persönliche Freiheit, da sie überzeugt war, daß jeder Mensch ein Recht darauf habe, daß dies ein menschliches Grundrecht sei, vor allem aber natürlich für sie.

„Siebenmal habe ich jetzt die mir bereits seit langem vorliegenden Anzeigen wegen Hörens eines Feindsenders, nämlich BBC London, unterdrückt und nicht weitergegeben; ich kann das aber nicht länger tun, es ist schon höheren Orts aufgefallen, daß es zwar Anzeigen wegen dieses Deliktes durch einen Ortsbewohner gibt, aber keine Weiterleitungen der Anzeigen durch mich und meine Dienststelle“ sagte der Fabrikant mit der Textilfabrik und einer schönen Villa, ein paar Häuser vom Doktorhaus entfernt, der kein fanatischer Nazi, sondern halt nur ein Nazifunktionär war, weil sich daraus wirtschaftliche Vorteile für ihn ergaben und vielleicht auch, weil er mit den Deutschen sympathisierte; denn er war ebenso wie der Vernaderer kein aus dem Ort Gebürtiger, ja vielleicht nicht einmal ein waschechter Österreicher. Also ermahnte er den Herr Doktor Kaufmann und sagte: „Ich weiß, daß Ihre werte Frau Gemahlin, die ich ja überaus schätze, sogenannte Feindsender hört und weiterhin hören wird, da kann man sowieso nichts machen; aber sagen Sie bitte ihrer Frau, sie möge doch ab jetzt, wenn sie BBC-London hört, wenigstens die Fenster zumachen und die Vorhänge zuziehen und das Radio nicht so laut aufdrehen; denn weiterhin kann ich sie nicht beschützen, ohne mich selbst zu gefährden. Sie wissen ja, der Herr XY-Sowieso ist ein ganz Eifriger und der wird mit Sicherheit keine Ruhe geben.“ Der Herr Dr. Kaufmann nickte verständnisvoll und im gegenseitigen Einverständnis. Und hinkünftig schloß also die Frau Dr. Kaufmann die Fenster und der Vorhang dahinter war zugezogen. Nur das Licht brannte bis spät in die Nacht hinein, oft bis nach Mitternacht.

Der Vernaderer aber hatte „eine Kundschaft“ verloren. Und so ging er halt weiterhin seiner Beschäftigung andernorts mit Eifer nach.  Ob mit oder ohne Erfolg, das weiß man nicht, das schien ihm ja vielleicht auch gar nicht so wichtig. Denn wichtig war es ja nur, daß er beobachtete und vielleicht dadurch auch abschreckte; eben als wachsamer Beobachter und Aufpasser, der im wahrsten Sinne des Wortes und in seiner Doppeldeutigkeit der Parole gerecht wurde, die jetzt in den späten Kriegsjahren überall plakatiert war: „Feind hört mit!“

Nach dem Krieg und der Nazizeit, nach dem „Zusammenbruch“ wie dies genannt wurde (nie „Befreiung“!) waren übrigens am Sonntag gegen vier Uhr am Nachmittag stets gewisse „Ehemalige“ (ehemalige Nazis) seine Stammgäste. Und sie ließen sich Kaffee und Kuchen bei guter Laune gut schmecken. Man konnte im Sommer durch die geöffneten Fenster ihr lautes fröhliches Lachen oft bis heraus auf den Gehsteig davor hören; bis dorthin, wo früher und vorher der Herr Cafetier als Vernaderer nachts spazierengegangen war, so als ob er nicht schlafen könnte.

Jeder wußte das, hätte es jedenfalls wissen müssen, weil wissen können. Aber niemand sprach darüber, auch nicht „nachher“; weil man sowieso über nichts von dem was vorher war, sprach; weil man „die alten Sachen ruhen lassen“ sollte, wie es hieß, wie etwas, das als Gebot ausgegeben worden war. Und eigentlich waren auch alle dieser Meinung. So blieb in diesem Ort viel ungesagt. Es gab kein Sicherinnern daran, die Erinnerung an „damals“ erlosch immer mehr und mehr; bis sie im Vergessen verschwunden war.

 

 

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Über den dezidiert politisch arbeitenden Peter Paul Wiplinger lesen Sie hier eine Würdigung.