Der Erdäpfelkeller

 

Wir sitzen im Erdäpfelkeller. Der heißt so, weil darin der Jahresbedarf an Erdäpfeln, jetzt Kartoffeln genannt, aufbewahrt werden, von der einen Erntezeit bis zur nächsten; mindestens zweihundert bis dreihundert Kilo Erdäpfel liegen da in einem Verschlag, in dem man an der Vorderseite Bretter hineinschieben kann, je nachdem, wie hoch der Erdäpfelstoß ist. Und die Erdäpfeln müssen von Zeit zu Zeit umgeschaufelt werden, mit einer eigenen Gabel, die vorne keine spitzen Zacken hat, sondern Kugerln an den Metallstäben; und sie müssen, meist im späten Frühjahr oder im Frühsommer gerebelt werden, und an dieser Arbeit muß auch ich mich dann beteiligen. Der ganze Keller riecht nach Erdäpfel; und nach Kraut. Denn dieses ist im gleichen Kellerabteil, im vorderen Keller in einem großen, dickwandigen schweren Granitbottich, der natürlich aus einem einzigen Granitblock herausgehauen wurde. An der Decke hängt eine Vierzigerbirne, deren Licht manchmal flackert oder für kurze Zeit ganz verlöscht. Wenn sie ganz verlöscht, und wir im völligen Dunkel sitzen, der Raum nur etwas erhellt durch das Licht, das ein Gugerl hereinkommt, das hoch oben unter dem Plafond im hinteren Kellerabteil knapp unter der Decke angebracht ist, dann wird es gefährlich; das wissen wir, und das weiß auch ich schon. Denn dann kommen bald die Flieger, die entweder ihre Bomben schon über Linz abgeworfen haben oder erst auf dem Anflug dorthin sind. Manchmal aber kracht es auch bei uns; und dann zittern die Wände, auch die des Kellers, und wir. Der Vater betet den Rosenkranz vor, wir anderen beten ihn nach. „Der Du das schwere Kreuz getragen hast“ und „Oh, mein Jesus, verzeih uns unsere Sünden, bewahre uns vor dem Feuer der Hölle, führe uns alle in den Himmel! In Ewigkeit, amen.“ Die Fanni betet voller Inbrunst mit. Ich sitze immer bei ihr, sie umarmt mich dann oft und sagt: „Peter, brauchst keine Angst haben, der liebe Gott beschützt uns schon.“ Darauf nicke ich stumm; so recht glauben daran tue ich nicht; weil wieso hat er die anderen nicht beschützt, die in Linz, die getötet oder unter dem Mauerschutt lebendig begraben wurden. Man hört ja so viel davon. Und ich bekomme, auch wenn ich nicht alles genau verstehe, doch das Wesentliche mit. Es ist Krieg. Manche sagen flüsternd und wie mit Schadenfreude oder hoffnungsvoll: „Es geht dem Ende zu.“ Aber laut und zu jemandem, den sie nicht gut kennen, von dem sie nicht genau wissen, wie der in Wirklichkeit ist, sagen sie so etwas nicht. Uns hat der Vater eingeschärft, schon vor langer Zeit: „Alles was im Haus hier geredet wird, bleibt hier im Haus; so als hättet ihr es nie gehört. Und draußen redet ihr auch nirgendwo mit; verstanden?!“ Das hat er sehr eindringlich gesagt und er wiederholt es von Zeit zu Zeit immer wieder. Die Mutter mischt sich da nicht drein; das ist Vaters Sache. Die Mutter sitz meistens stumm da, wirkt wie in sich eingeschlossen, auch wenn sie neben dem Vater sitzt. Sie sitzt da, betet kaum mit, schweigt und schaut mit ihren Augen wie leblos irgendwohin, in irgendein Loch in weiter Ferne. Sie hat Angst um uns alle; und auch m die beiden ältesten Söhne, die „eingerückt“ und „im Feld“ oder schon in Gefangenschaft sind. Bevor wir alle in den Keller gerannt sind, hat die Sirene, die auf dem Gemeindedach befestigt ist, ein paarmal aufgeheult, in einer ganz bestimmten Art, so hinauf und hinunter und wieder hinauf und wieder hinunter. Und dann lassen die meisten Leute alles liegen und stehen und rennen in ihren Keller oder eben dorthin wo ein solcher ist. Und wenn die Flugzeuge wieder weg sind und keine mehr kommen, dann gibt es Entwarnung, wieder mit der Sirene, aber jetzt in einer anderen Tonabfolgeart. Und dann wissen wir, daß wir wieder aus dem Keller herausdürfen und hinauf in die Küche oder sonstwohin. Wenn wir Glück haben, ist oben nichts kaputt. Und der Vater sagt manchmal, bevor wir den Keller verlassen und das Rosenkranzgesetzlein zu Ende gebetet haben, dann noch ein „Mein Jesus, erbarme Dich unser…!“ Und wir denken, auch wenn wir es nicht laut sagen: Guat is gonga, nix is gschehn. Und wir atmen auf.

 

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Über den dezidiert politisch arbeitenden Peter Paul Wiplinger lesen Sie hier eine Würdigung.