Wehwehchen

Als Herr Nipp morgens aufstand, machte ihm sein Hals zu schaffen. Nicht nur, dass er sich am ersten Tag einen fiesen Sonnenbrand eingefangen hatte, der täglich trotz Lichtschutzfaktor 50+ neu gereizt wurde, sondern auch, dass eine noch viel gemeinere Stechmücke in der Abenddämmerung unbemerkt ihr blutiges Handwerk, genauer gesagt Stechwerk getan hatte. Aller Häme, lieber Leser, beim Lesen zum Trotz, aller Schadenfreude derjenigen, die schon ähnliches erlebt haben, die allerdings gerade in diesem Moment hiervon verschont sind. All jenen zum Trotz, die nach dem Motto in den Tag leben, dass man am besten über die Missgeschicke laut lacht, damit eben jene nicht sehen, wie es im eigenen Inneren steht oder liegt oder gefallen ist. All jenen zum Trotz, die immer noch über die schwarzweißen, inzwischen leider meist nachträglich eingefärbten Filme aus der Klamottenkiste lachen können, über jene Streifen aus der Frühzeit des Films mit Laurel und Hardy, Pat und Patachon und wie sie alle heißen. All jenen zum Trotz, die mit ihren wehleidigen Blicken alles nur noch schlimmer machen, weil in manchen Situation geteiltes Leid eben kein halbes ist, sondern ein Bewusstsein schafft, welches man nur zu gern abgelenkt haben möchte. Da ist geteiltes Leid potenziertes. Vor allem aber jenen Mitreisenden zum Trotz, die ihn schon in den ersten Minuten der Sonneneinstrahlung dringlich gewarnt hatten. Die sich jetzt ganz offen derbe Scherze auf seine Kosten machten. Wer nicht hören will…Mit bösen Sprüchen feixten. Herr Nipp saß nach wirklichem moralischen Tiefpunkt, einer Fahrt in den Mariannengraben der Gefühle wieder auf seinem Campingstuhl, hatte beschlossen, selbstbewusst die Sache mit sich und den gespielt und übertrieben mitleidigen Blicken auszufechten und zu überstehen. Irgendwann würde sich die Schwellung wieder zurückziehen, das Halskratzen sich von allein erledigen und die Haut würde sich in weißen Fetzen lösen. Wie eine Schlange würde er sich von der Vergangenheit lösen. Er genoss die frühe Ruhe, die lediglich vom unmotivierten Greinen eines gerade erwachten und nach Milch bettelnden Kleinstkindes gestört, nein, nicht einmal das, vielleicht eher angerührt wurde. Dieses Kind hatte sein wahres Mitgefühl, wollte es doch nur Zuwendung und die Brust der Mutter, um dann wieder friedlich einzuschlafen. Genau dann, wenn seine Mama selig lächelnd den Erdbeergeruch im Nacken des Kindes wahrnimmt.

Doch langsam kam Bewegung auf. Die Mitbewohnergemeinschaft auf Zeit erledigte erste größere und kleinere Geschäfte. Mit hektisch verhaltenen Schritten schlichen oder liefen erste Wanderer zum behaglichen Toilettentrakt, es sollte eine schier endlose Karawane werden. Wasser wurde geholt, um einen frühen Kaffee oder Tee zu kochen, von einer Ecke kam ihm sogar die Ahnung einer Hühnerbouillon in die Nase. Das Gefrühstücke ging los, vor jedem Zelt irgendwann, mal ganz ruhig und gelassen, mal ganz hektisch, weil Vorhaben vor der Nase standen. Wanderungen oder Passüberquerungen auf dem Rad. Sogar das Pärchen aus San Marino, das am vorigen Tag sehr spät eingetroffen war, regte sich fast bedenklich. Bald würde die Sonne aufgehen und auf den Platz brennen, was am frühen Tonschlag, dem Gezwitscher der Vogelwelt zu spüren war. Ein Konzert, um den Menschen aufzuwecken: „Hey, steht auf, genießt den Tag, ihr Faulpelze!“

Herr Nipp aber hatte sein Tagebuch vor sich liegen, eine graue Klemmkladde, Ablenkungstaktik gegen die real erlebten Leiden, er notierte, was ihm in den letzten Tagen widerfahren wart. Aus jedem Wort sprach, fast schon völlig ungewöhnlich für ihn, eine fast monströse Zufriedenheit. So seltsam es klingt, der Anblick und die Anwesenheit der Berge hatten eine beruhigende, fast therapeutische Wirkung auf ihn, wie das Rückkehren in eine seltsam romantische Sehnsuchtsheimat. Da mussten sich auch die äußerlichen Wehwehchen heilen lassen. Die Unnahbarkeit der Felsen, auch wenn man mitten in einer Wand klebt und den Stein in der Hand hat, hatte ihn seit seiner frühesten Kindheit tief bewegt. Das war es vielleicht, was bei den Menschen jenes stehende Wort, eine wahre Wendung erzeugt hatte: Der Berg ruft.

Dann konnte er auch Sonnenbrand und Mückenstich vergessen, Halsschmerzen, alles wirkte ihm so unwesentlich.

 

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Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, dokumentiert auf KUNO 1994 – 2019

Zu einem begehrten Sammlerstück hat sich die Totholzausgabe von Herrn Nipps Die Angst perfekter Schwiegersöhne entwickelt. Zudem belegt sein Taschenbuch Unerhörte Möglichkeiten, daß man keinen Falken mehr verzehren muss, um novellistisch tätig zu sein. Herr Nipp dampft die Gattung der Novelle konsequent zu Twitteratur ein. Haimo Hieronymus präsentiert zudem Über Heblichkeiten, Floskeln und andere Ausrutscher aus den Notizbüchern des Herrn Nipp.

In 2018 kommt etwas Gewichtiges auf Sie zu. Zyklop I ist mit einer partikularen Sichtweise eine ebenso wunderbare, wie irritierende Erfahrung. Das eine ist nicht vom anderen zu trennen, denn Haimo Hieronymus will unbestreitbar Schönheit schaffen und er will hier nicht weniger als von allem erzählen: Vom Großen, Ganzen, vom Kosmos, von der Schöpfung. Gar vom Leben selbst, indem er in die Vollen greift, ohne Angst, etwas falsch zu machen. Kunst erkennt man daran, daß sie das Ewige sichtbar macht, Bilder werden zu einem idealen Erkenntnismedium. Zyklop I ist ein sakrales Kunstprojekt ohne religiöse Dogmen.

Zur Subscription freigegeben: Zyklop I, Katalog von Haimo Hieronymus, Edition Das Labor. Erscheint im September 2018 in einer limitierten Auflage von 100 Exemplaren. Freunde und Förderer werden im Katalog mit einer Würdigung dokumentiert.

Anfragen zu Zyklop I und den bibliophilen Kostbarkeiten über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421

Weiterführend → Zum Thema Künstlerbücher finden Sie hier einen Essay sowie einen Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus.