Schmacht

 

Lungenschmacht. Eigentlich war damit zu rechnen gewesen. Ein völlig verschlafener Nachmittag würde einen langen und süchtelnden Abend nach sich ziehen. Er war zu faul raus zu gehen, an den nächsten Automaten oder gar in die Stadt, um seinen Lieblingstabak zu kaufen, Danske Club. Pfeifengeruch aus einer selbst gedrehten Zigarette, zwar eigentlich nicht selbst gedreht im klassischen Sinn, aber mit der kleinen Drehmaschine, bei der man nur noch rollen und lecken musste. Er saß vor dem Fernseher, die Bedienung in der Hand und schaltete einmal hoch, einmal runter, achtundzwanzig Programme und keins für ihn. Die mediale Vielfalt, auf die sie alle vor Jahren noch gehofft hatten war es schließlich doch nicht geworden, einzig die dritten blieben als Hoffnungsschimmer noch über, wenigstens die leise Chance auf televisorische Halbbildung und Nichtganzverblödung. Der schwarze Kasten ging Herrn Nipp sehr schnell auf den Geist, er suchte den roten Knopf und schaltete ab.

Neben der violetten Couch (ansonsten aber war das Zimmer abgesehen von der heillosen Unordnung ganz geschmackvoll eingerichtet, mit einigen Originalgrafiken an den Wänden und sogar einem postmodernen Ölschinken, abgebeizten alten Möbeln von Anfang des 20. Jahrhunderts, die er auf Flohmärkten und vom Sperrmüll zusammengesammelt hatte, und ganz netten Rattansesseln) stand auf dem Boden unter einigen Zeitungen vergraben das Telefon. Er beugte sich schwerfällig über die Lehne zur Seite und angelte sich den Hörer. Die Tasten, die im Hörer eingelassen waren, machten zwar nicht alles mit, im Großen und Ganzen funktionierte das Teil aber. Der erste Wählversuch scheiterte an der ersten eins, der zweite an der dritten eins, aber dann hatte er doch jemanden am Apparat. „Hallo, ich bin es.“  „……Nipp?“ „Ja,   hör mal   ich hab doch noch was gut bei dir, kannst du gleich mal vorbeikommen und mir Zigaretten mitbringen?   Am besten meinen Lieblingstabak….“ „Komm, lass mich endlich in Ruhe.“ Der Hörer knallte auf der anderen Seite in die Gabel, kein Ton war mehr zu hören, das war dann wohl nichts. Herr Nipp schaute noch mal verwundert in den Hörer, als erwarte er, es würde sich doch noch etwas tun, schließlich legte er mit einem etwas enttäuschten Blick den Hörer auf den Boden.

Solche Situationen waren eigentlich alltäglich, nur hatte er es in diesem Moment wirklich nicht erwartet. Was also war zu tun?

Herr Nipp grübelte nicht lange nach, sah sich die kleine beigebraune Radierung von Horst Janssen kurz an, als würde er aus ihr ein wenig Kraft ziehen, man kennt solche Szenen auch aus alten Filmen, wenn alte Frauen oder Don Camillo ihren kurzen aber um Hilfe bettelnden Blick zum leidenden Jesus am Kreuz schickten, dessen Augen suchten und mit ein wenig mehr Kraft zur Tat übergingen. Ähnlich verhielt es sich hier wohl auch, zwar litt auf dem Bild keiner, das hatten die beiden von Sperma umschwirrten grinsenden Skelette schon hinter sich, aber ein Ruck ging durch den eigentlich recht mageren, sah man mal von seinen Hühnerbrüsten ab,  Herrn Nipp, er stand auf und räumte zur Abwechslung mal im Zimmer auf, wer konnte schon wissen, was unter all den Büchern und Zeitungen noch so alles zu finden war. Er konnte einfach nicht verstehen, woher all diese Bücher stammten, das Regal war vor zwei Wochen noch bis oben voll gewesen, kaum zu glauben, dass irgendjemand die alle da rausgeholt hatte. Unverschämtheit, er musste immer alles aufräumen, kein anderer kümmerte sich darum, dachte er so vor sich hin oder besser in sich hinein, allerdings war er wohl auch der Einzige, der für dieses Chaos infrage kam. Entdeckungen konnten da gemacht werden, von denen andere schwach geworden wären, so zum Beispiel der Anzeigenteil der Zeitung von 9. November 1989 oder die erste Seite aus Robert Musils „Nachlass zu Lebzeiten“, alles aufzuzählen würde alleine schon mehrerer Seiten bedürfen, und das kann verdammt langweilig werden. Zu sagen ist vielleicht noch, dass Herr Nipp den seit einigen Jahren verloren geglaubten Tischtennisschläger wiederfand, außerdem ein Portmonee mit immerhin über einundzwanzig Mark zehn und dem Führerschein, wegen dem er schon bei zwei Kontrollen ein kleines, nettes Bußgeld bekommen  hatte, eine Mappe mit Grafiken von irgendeinem Kölner Künstler, dessen Namen er schon kurz nach dem Kauf vergessen hatte, eine Kassette mit Musik von Michael Nyman, gespielt von Balanescu String Quartett, die er auch sofort in den Kassettenrekorder schob und sich ein bisschen begeistern ließ, einen bereits benutzten, ach ist ja auch egal, und auch eine Schachtel mit Zigaretten, die noch das alte Dekor hatte, also schon über drei Jahre alt sein musste. Aber all das ist egal, wenn man Lungenschmacht hat. Nach der dritten Zigarette brauchte Herr Nipp auch nicht mehr zu husten.

Das Aufräumen hatte wie man vermuten kann direkt nach Auffinden der Schachtel Zigaretten ein Ende. Aber immerhin nahm sich Nipp fest vor, endlich ein Ende mit der Unordnung zu machen und aufzuräumen, aber dies war nicht der richtige Tag dafür, vielleicht morgen… oder so.

 

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Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, KUNO 1994 – 2019

Die unerhörten Geschichten von Herrn Nipp sind glossierende Anmerkungen die sich schnoddrig mit dem Zeitgeist auseinandersetzen. Oft wird in diesen Kolportagen ein Konflikt zwischen Ordnung und Chaos beschrieben. Wir lesen sowohl überraschendes und unerwartetes, potentiell ungewöhnliches, das Geschehen verweist auf einen sich real ereigneten (oder wenigstens möglichen) Ursprung des Erzählten.

Weiterführend → 

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Papier ist autonomes Kunstmaterial, daher ein vertiefendes Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.

Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421