Warum ich Schiller liebe

 

Wenn der Idealismus Schillers die Herzen der Wähler beseelte – wir hätten heute eine andere, eine bessere Politik! Schillers Humanismus und eine moderne Kapitalismus-Kritik ist genau das, was wir brauchen, um besser und würdiger zu leben als in der Armut eines sehr fragwürdigen und ohnehin nur sehr partiellen Wohlstands.

I

Don Carlos – Utopie eines besten Staats

Unser Streben nach Wahrheit, nach geistiger und politischer Aufklärung oder sozialer Gerechtigkeit kann sich in der Enge des spanischen Staats zur Zeit Philipps II. im 16. Jahrhundert nicht entfalten. Die Elite des Landes – der Hofadel – ist durch ein starres Regime verurteilt zu einem Leben als Hofschranzen und Marionetten, zumal die Herrschaft, die im absolutistischen Erbmonarchen gipfelt, sich der Geheimpolizei, der politischen und kirchlichen Inquisition und einer Hofmoral bedient, die jede Ecke des privaten Lebens moralisch reglementiert. Im Bündnis mit der katholischen Kirche, die keine Inquisition scheut, wird am Ende fraglich, wer der eigentliche Herrscher ist – der weltliche König oder der geistliche Großinquisitor, doch sind beide nur die zwei Seiten derselben Münze, in der den Untertanen heimgezahlt wird.

Das ist heute im Kern nicht viel anders als damals. Die Strukturen sind die gleichen, heißen nur anders. Westliche Demokratie versucht die Misere sozialstaatlichen Scheiterns zu legitimieren. Der Wähler stimmt seiner eigenen Entwürdigung und dem Reichtum der Wenigen differenziert oder diffus zu. Der untergegangene Kommunismus des Ostblocks garantierte auf Kosten der individuellen Freiheit wenigstens materielle Sicherheit; die aber war arm, langweilig und auch entwürdigend.

In solcher Enge hat jeder Wille zur Änderung, also die Durchsetzung eigener Pläne, neuer Strukturen oder gar Systemkritik nur durch Intrigen (Taktieren) eine Chance. Schiller zeigt in Don Carlos, dass selbst die moralisch begründete Intrige zum Scheitern verurteilt ist – und zwar nicht nur praktisch, also in politischen Kategorien gedacht, sondern auch inhaltlich: Die Idee verrät sich durch die Intrige, die Intrige ist letztlich Anpassung an die bestehende Macht und muss sich nicht wundern, wenn sie gegen die stärkeren, erfahreneren und feineren Mittel der Mächtigen unterliegt. Ob Schiller hier ein eher resignatives Stück (als Historiker) schrieb, Reformen von oben (als Philosoph) oder eine humanere Revolution (als Dichter) fordert, bleibt offen, es gilt vielleicht alles zusammen. Die Revolution von 1789ff. verabscheute Schiller wie Goethe wegen der entsetzlichen unkontrollierbaren Entwicklung – er konnte also nur auf eine permanente Bildungsreform setzen, an die Veränderung der materiellen und strukturellen Gegebenheiten durch den Geist glauben, daher seine Forderung nach der „Schaubühne als moralische Anstalt“. Das alles ist modern und aktuell geblieben bis zum heutigen Tag! Die Revolution von 1917 und ihre Folgen haben uns nicht gerettet – die soziale Marktwirtschaft auch nicht. Es bleibt, wie es war:

Nur Bewusstseinsveränderung aller Menschen kann die Utopie eines besten Staats erzwingen. Das gelingt nur auf der Grundlage des Kategorischen Imperativs von Kant, Hauptidee des Dramatikers Schiller: Handle stets so, dass die Maxime deines Willens jederzeit als Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne. Wir sehen heute, wie weit davon entfernt alle Politiker sind, da sie nur parteipolitisch taktieren, aber keiner Strategie folgen können. Marquis de Posa ist, wenn auch im guten Sinn und obwohl ein Idealist, aber eben ein falscher, ein subtiles Beispiel solchen Scheiterns. Natürlich leidet auch der oberste Repräsentant des Staates unter den Konsequenzen seiner Ordnung, Philipp war ja einen Moment lang schwach, und beinahe wäre Posas edle Intrige aufgegangen – aber wenn nicht die Majestät oder die führende Politikerkaste von heute durchschaut, dass sie an sich selbst leidet, weil das System der Macht zur Entfremdung und Psychopathie aller, der Regierenden und Regierten, führt, muss es der Zuschauer erkennen.

Der Raum der Religion, die uns befreien könnte, müsste weit sein, so weit wie die Ethik Kants – Philipp aber folgt der eigenen Einsicht und kreuzigt sich mit der Logik seines Amts, und zugleich kreuzigt ihn die Kirche. Der Raum des Dramas, die Geschichte als Tragödie, ist erfüllt von der Stimme des Über-Ichs, von den mythologischen Worten der Angst, die uns gemacht werden soll, und das schreit auch in unseren Tagen nach der Stimme des Individuums, das sich befreit.

II

Maria Stuart – eine moderne Inszenierung heutiger Politik

Königin Elisabeth steigt im Panzerkleid als Glamour-Star die steile Treppe zur Show hinab. Die Show ist die Staatspolitik. Irgendwie stimmt das ja auch. Die Minister benehmen sich in ihren grauen Anzügen wie die feinen Zuhälter der sogenannten freien Wirtschaft. Na gut. Sie nehmen der Königin das Blech von der Seele und stellen es scheppernd ab. Da steht die blonde Venus nun auf den Stufen ihrer moralischen Treppe abwärts. Leicester will hoch. Er will Maria und Elisabeth, am liebsten die schöne Maria. Leicester betrügt beide Königinnen gleichzeitig. Leicester ist ein richtiges Arschloch. Da steht sein aufrichtiger Wille. Er reißt sich die Kleider vom Leib, während er die Stufen hinauf stürzt, und wirft sein nacktes Fleisch der englischen Königin zum Fraß vor.

Im schönen Schein der Bühne regnet es immer wieder mal in feinen Schwaden. Das ist nicht das englische Wetter, sondern Spermienregen. In diesem Klima sieht die Welt sehr schön aus. Nach dem Streit der Königinnen, in dem beide ihre Hormone freilegen, kann Mortimer seine Geilheit nicht mehr zähmen. Er lässt die Hose fallen wie eine Maske, das Arschloch fällt über Maria her, aber er steht die Nummer nicht durch. Der Abknicker sackt zusammen. Maria rettet sich. Dann ejakuliert der Himmel, es regnet. Mortimer kriecht in die Pfütze, ins allgemeine Spermienbiotop, streckt uns den nackten Arsch entgegen und windet sich unbefriedigt. Maria darf die Treppe, auf der Elisabeth in unsere Realität hinabstieg, als moralische Siegerin hinaufsteigen.

Schiller zeigt uns in seiner moralischen Veranstaltung: Der Mensch ist schlecht. Er will Macht und Geld. Er liebt nur sich. Er hat keine Ideale. Er kennt nur Intrigen. Er ist geil. Er denkt mit dem Schwanz. Seine Seele liegt irgendwo zwischen zwei Löchern. Der Mensch ist ein Arschloch. Es gibt kein Ich, es gibt nur Es. Wir sind alle nur Zuhälter, geile Freier, Nutten und Stricher. Freiwillige Marionetten des real existierenden Ökonomismus. Schiller entlarvt falschen Idealismus als Lüge oder Selbstbetrug! Das ist ein Stück für die Ärsche im Publikum. Das ist modern! Das kann gar nicht altmodisch werden. Und deswegen begeisterten Schillers Stücke die besten Köpfe in ganz Europa noch Jahrzehnte nach seinem Tod, und sie halten sich auf den Bühnen unserer Zeit!

 

 

Weiterführend →

Ulrich Bergmann nennt seine Kurztexte ironisch „gedankenmusikalische Polaroidbilder zur Illustration einer heimlichen Poetik des Dialogs“. Wir präsentieren auf KUNO eine lose Reihe mit dem Titel Splitter, nicht einmal Fragmente. Lesen Sie zu seinen Arthurgeschichten den Essay von Holger Benkel. Eine Einführung in seine Schlangegeschichten finden Sie hier.