Terrorismus ist die Umsetzung des Willens mit allen Mitteln

 

Der Historiker Timothy Garton Ash postulierte in diesen Tagen, mit dem Fall der Mauer sei das letzte Jahrhundert zu Ende gegangen – erst mit dem Einsturz der beiden Türme des World Trade Center in Manhattan beginne das neue Jahrhundert. Ash meint eine neue Zeit mit einer neuen Art von Kriegen, und damit eine neue Weltpolitik mit einer neuen Machtverteilung.

Vielleicht erleben wir das Ende der letzten relativ stabilen Weltordnung seit 1815 und 1945, das Ende der Geschichte von Weltreichen. Die Zeit nach dem wahrscheinlich letzten Weltkrieg nationaler Mächte war eine Übergangszeit des Kalten Krieges mit Wettrüsten und kleineren Kriegen in Satellitenstaaten (Korea, Vietnam) der beiden Machtblöcke USA und Sowjetunion; nach dem Untergang des Ostblocks, der mit dem Fall der Berliner Mauer besiegelt war, wurden die USA alleinige Weltordnungsmacht, die vor allem die Interessen der reichen Industriestaaten (Westblock und einige Beitrittsländer) vertritt, und zwar die weltweite Geltung ihres Wirtschaftssystems (möglichst in demokratischen Verfassungen geregelter Kapitalismus) und Zugänglichkeit der Energiereserven in aller Welt, vor allem des Erdöls in der Golfregion.

Die fanatischen Terroristen, die zivile Flugzeuge mit unschuldigen Opfern zu Waffen machten und ihr Leben an ihre absolutistische Idee hingaben, wollen die bestehenden Machtverhältnisse mit allen Mitteln verändern. Der Begriff des totalen Krieges, der durch Hitlers Weltkrieg, in dessen Schatten Millionen von Menschen in Konzentrationslagern ermordet wurden, ausgereizt schien, wird nun noch weiter gefasst: Terrorismus, der durch Verwundung neuralgischer Punkte bisher vor allem im Innern eines Staates dessen herrschendes System verunsichern und schließlich stürzen wollte (RAF), überschreitet die nationalen Grenzen und Kategorien und wird zum totalen Terrorismus. Auch die Ideologie einer rassistischen Weltherrschaft war nicht das Ende extremer Vorstellungen – an die Stelle nationalistischer und rassistischer Ideen treten nun supranationale fanatische Märtyrer-Strategien; Religion heiligt deren Mittel und wird zugleich selbst funktionalisiert.

Dies alles hat Wurzeln: Gesellschaftspolitisch in der nationalsozialistischen Herrschaft, die strukturell ein innerstaatlicher Terrorismus von oben war, außenpolitisch mit der totalitaristischen Bedrohung der Welt, die strukturell ein nationaler Terrorismus nach außen war.

Wir müssen uns fragen, ob auch die Zerstörung deutscher Städte durch angloamerikanische Bombenangriffe und der Abwurf von Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki als unverhältnismäßige Maßnahmen zur Abschreckung und Demoralisierung der feindlichen Bevölkerung in ihrer Struktur terroristisch wirkten und vorbildlich für den aktuellen Terrorismus wurden.

Nach Clausewitz galt und gilt nach wie vor: „Krieg ist die Fortsetzung der Politik unter Einmischung anderer Mittel.“ Aller Mittel! Zu diesen Mitteln gehörten immer schon, wenn auch untergeordnet, ihrer Struktur nach terroristische Taktiken (psychologische Kriegsführung, abschreckende Hinrichtungen, Vergeltungsschläge), die nun, totalistisch gedacht, mindestens solange als Strategie dienen, bis der terroristische Krieg gewonnen ist.

Wir sind Zeugen der Privatisierung des Terrors, der Totalisierung seiner unberechenbaren Mittel. Im Schutz zumindest anfänglicher Anonymität entsteht der totale Terrorismus. Es ist die Verabsolutierung eines unbändigen Willens und Hasses, der willkürlich rational und irrational sein kann. Wir müssen alle Ursachen des totalen Terrorismus suchen, auch die Ursachen und Motive, die uns in Frage stellen.

Wollen wir den totalen Terror?

Die USA, die mit ihr verbündeten NATO-Länder, Japan und die ehemaligen Ostblockstaaten können das von ihnen derzeit noch bestimmte Gleichgewicht der Mächte in der Welt nur sichern, wenn sie nicht nur intelligente antiterroristische Techniken entwickeln – sie werden gegen die Übermacht amoralischer Phantasie nicht ausreichen -, sondern auch ihre derzeitige Außenpolitik gegenüber den islamischen Staaten und allen Staaten der dritten Welt revidieren, ganz abgesehen von dem Problem der aufstrebenden Weltgroßmächte China und Indien. Nur die Prinzipien der Gleichberechtigung und der Beseitigung der extremen sozialen Unterschiede können den derzeit entstehenden globalen Terrorismus beseitigen – wir benötigen ein langfristiges strukturpolitisches Konzept für die Schaffung einer Weltgemeinschaft der Staaten, Blöcke und Kulturen.

 

 

Weiterführend →

Ulrich Bergmann nennt seine Kurztexte ironisch „gedankenmusikalische Polaroidbilder zur Illustration einer heimlichen Poetik des Dialogs“. Wir präsentieren auf KUNO eine lose Reihe mit dem Titel Splitter, nicht einmal Fragmente. Lesen Sie zu seinen Arthurgeschichten den Essay von Holger Benkel. Eine Einführung in seine Schlangegeschichten finden Sie hier.