Denk mal, Teddy (Verlaufen in der Greifswalder)

 

Da schaut er weiterhin in die Ferne (wohin?) vor Arbeiterfahne gepfropft der bronzene Oberkörperanschnitt auf ukrainischem Granit, 50 Tonnen ewiglich erstarrter Rotfrontkämpfer, denunziert von Hilliges, erniedrigt versehrt entwürdigt inhaftiert gequält erschossen, ein Stabsscharführer der SS erledigte das auf Befehl von oben oder ein Oberscharführer oder ein Obersturmführer oder die Teufelsbrut zusammen oder ein Kapo ein Drecksverbrecherschwein, Mord, wie auch immer: geschändet kann man sagen und ausgelöscht. Verschwunden, Abfall weg damit, sofort verbrannt, Mutmaßungen. Es bleibt der Kerbel-Koloss. Aber warum. Ein Antidemokrat. Früher soll hier alles voll Graffiti gewesen sein (eingekerkert, ermordet, beschmiert). Jetzt ist er sauber.

Sümpfe sieden kriselnd, Polarisierung: ein Widerständler? – Kämpfer für das Leben? – Ein Stalinist? – Ein Antidemokrat? Freund? Feind? Was nun? (Der Pöbel ruft: Recht so pisst ihm an die Basis sprüht ihn an, eine Schande die Ikonoklasten stehen bereit. Das Volk sagt: Er bleibt. Aktionsbündnis Thälmann-Denkmal.) Jeder an seinem Platz. Greifswalder Straße. Dreckstangente. Da stehst du nun im Jetzt kleiner als er im Leben, von keinem Bildersturm bedroht und blickst in die selbe Richtung und denkst: der war kein Guter, so oder so, der wollte den bürgerlichen Staat zerschlagen. Oder doch. Müssen wir bürgerlich sein? Es ist gut so wie es ist. Geschichte nicht umschreiben, Bücher nicht verbrennen. Sie könnten Teddy mit einer Obama-Skulptur ersetzen. Merkel nicht, Kohl auch nicht, verbrauchen beide zu viel Bronze. Oder mit einer Mac Doof Filiale. Oder sie lassen die Wirklichkeit so wie ist.

Im Jetzt haben wir keine Waffen zu strecken, wir haben keine. Die Herrschenden erzittern nicht mehr. Vor uns muss niemand sich fürchten. Wir sind marktkonform und ziellos mit uns selbst beschäftigt. Wir sind beim Vulcano Boarding Slacklining Cliff Diving Riverrafting Freeclimbing oder auf WhatsApp unterwegs. Satt und immer satt. Die Eltern sind uns näher denn je.

Wir sind aufgeklärt und tolerant und wissen von Migrationskrise und Klimawandel, komplexere Zusammenhänge verstehen wir nicht, was uns nicht daran hindert, mit dem Genom zu spielen. Wir hängen an unserem bisschen Scheißleben und wollen Künstliche Intelligenz um uns von Verantwortung zu entbinden.

Du bist nicht von hier. Die Bronze schweigt, die Faust entmutigt dich für einen Augenblick: Mauern, Gras, Asphalt, Bäume Pflaster Kehricht Staub behalten ihre Geschichten für sich, ihre Geheimnisse interessieren dich nicht, die Stadt ist stumm inmitten des Gelärms, wie der schalltote Raum in den Orfield Laboratories. Die Arbeiterfahne macht dich grinsen.

Im Rumbalotte Continua wolltest du gestern Abend was trinken. Das gibt es nicht mehr. Geschlossen am 18. September 2015.

Schweigezeit. Wo findet man Mut zum Weitermachen in der Leere?

 

 

***

 

Der Essay Sind wir nicht alle ein bisschen COPY & Paste? wurde beim KUNO-Essaypreis 2013 mit einer lobenden Erwähnung bedacht. Die Begründung findet sich hier.

Die Redaktion verlieh Denis Ullrich für einen weiteren fulminanten Text den KUNO–Essay–Preis 2015.

Lesen Sie bitte auch: Fragmentarischer Versuch einer Prosaverortung und den Prosaüberflug Lost in Laberland.