Ein anderes Ende

 

Erst blickte er hinunter zum Platz. Sah sich in den endlos multiplizierten Porträts: Gewelltes Haar und sinnliche Lippen, ein Stirn wie ein Kornfeld. Sein polychromes Gesicht war umgeben von Fahnen und Schildertafeln mit gleicher Wortwahl: Es lebe unser weiser Führer! Der liebste Sohn unseres Volkes! Der Architekt unserer goldenen Zukunft!

Die Versammelten begannen seinen viersilbigen Namen und die Initialen der Partei zu skandieren. Alle zehn Minuten dröhnte in den Platzmikrophonen eine Akklamation, wie auf ein Handzeichen. Wie bei Nabucco, der einzigen Oper, die er wirklich liebte und scheinbar ihm mehr ergriff als die Marseillaise, die Internationale und Tricolore zusammen: der Dirigent hob den Taktstock und das berühmte Chorlied der Sklaven trat über die Bühne und überflutete die Arenen, die ganze Stadt von Verona…Er konnte diesem Klangrausch nie widerstehen, pfiff ein paar Töne mit. Nein, das Volk sei keineswegs eine Hydra mit tausend Köpfen, wie einst jemand behauptete, sondern ein herrlicher, fügsamer Chor von  Schafen, lächelte er und genoss die Lobpreisung. Die Kundgebung verlief wie gewohnt, war sie doch jahrelang eingeübt worden. Er fühlte sich weiterhin unverwundbar. Und da er trotz des revolutionären Geistes, mit dem Sonnenkönig einig war, dass Staat und seine Person eins seien, glaubte er auch an die Unverwundbarkeit der Sozialistischen Republik.

Nun schaute er in die leeren Augen seiner auf demselben Balkon des Zentralkomitees stehenden Frau, und spürte zum ersten Mal die Krallen eines Zweifels. Seine Hochstimmung ließ nach. Ob es richtig war, sie mit einem solchen Überhang an Titeln schmücken zu lassen und mit Macht zu überfüttern, fragte er sich, und ob sie sich noch an den kleinen Märchenfisch erinnert, der ihr alle drei Nachtwünsche  erfüllte… Er schaute nochmals hin und sah diesmal ihren nach hinten geworfenen Kopf, raubvogelstolz, den Gletscher im Nacken, das puppenfrisierte Haar. Nein,

sie erinnerte sich nicht mehr. Das schlechte Volksschulzeugnis wie auch die Näh-maschine ihrer Jugend warf sie irgendwo auf der  Müllkippe ihres Gedächtnisses. Was sollte ich als Akademiemitglied und habilitierte Chemikerin von Weltruf mit solchen lumpigen Erinnerungen sonst tun, trumpfte sie auf, und er musste die Idee eines Museums für ihre früheren Habseligkeiten aufgeben. Er dagegen hatte allen und überall von den Schuhen erzählt, die er besohlt hat, und von seinen wiederholten Inhaftierungen in den 30-er Jahren. Alles steht in den Büchern, denn

er ist, war und wird ein Verfechter der historischen Vollständigkeit bleiben. Ein grandioser  Satz, würde sein Rhetoriklehrer ihn loben, auch wenn er das Wort „Verfechter“ nicht gut aussprechen konnte.

Die Buhrufe! Sie sind lauter geworden, rief eine unruhige Stimme aus seinem prominenten Gefolge. Sprechen Sie zum Volk!

Sprich endlich, sagte auch seine Frau mit fordernder Stimme, ohne ihn anzuschauen. Deswegen brachen wir den Besuch bei unserem arabischen Freund ab und eilten hierhin!

Er war seelisch verletzt, konnte das sekundenschnelle Umkippen der Massen-stimmung nicht begreifen. Wieso Buhrufe, gerade bejubelten sie ihn. Kann doch nicht alles nur eine Einbildung gewesen sein…

Jetzt hörte auch er Schreie und das tausendfache Gemurmel und sah wie die Kolonnen auseinanderbrachen und sich neu formierten. Sie sind doch keine Schafe, sondern ein Seeungeheuer, erkannte er ein wenig spät, zu spät, den zunehmenden Unmut von unten.

Liebe Bürger und Bürgerinnen, hörte er sich sprechen. Heiser wie immer und tremolierend: Der Aufstand von Temesvar wurde niedergeschlagen. Der geweihte Lümmel und einige Feinde unseres Landes haben mit ihren Hetzreden versucht, nicht nur diese Stadt, sondern unsere Sozialistische Republik zu destabilisieren und euch zu verunsichern…

Wir sind keine Lümmel, schlug eine andere Stimme zurück. Im nächsten Augenblick geschah für ihn das Unfassbare: Schilder der Huldigung zerbrachen unter der Wut der vielen Füße, Hände zerrissen die roten Fahnen und schleuderten Steine zum Balkon. Danach die Erstürmung. Als hätte jemand die Schleusen geöffnet. Die Soldaten schauten nur zu und warteten. Statisten  im Film oder schon die Fronten gewechselt?

Ich beging doch keinen Frevel, versuchte der gebrochene Atheist die entfesselte Menschenmenge zu besänftigen, aber auch dieses Psalmwort – sein letzter taktischer Zug – erreichte kein Trommelfell mehr.

Die Mélange aus Kriminalfilm, Höhlenmenschkrieg und révolution à la française widerte ihn an. Sein Zuckerspiegel stieg, er torkelte auf die Fluchttreppe, schnappte wie ein Frosch nach Luft, zischte: Das ist der Fluch der zerstörten Kirchen und Dörfer!, drückte in Panik die Dachbodentür zu, irrte bleibeinig umher und verkroch sich zum Schluss in einem halbleeren Archivschrank. Schweißgebadet schleppte er sich in den nächsten Minuten wieder heraus und ließ sich auf einen frei liegenden Stapel verschimmelter Parteibücher fallen. Seine Platzangst war jedenfalls größer als die Angst vor den aufgebrachten Untertanen. „Nein, ich gebe nicht auf, nicht so“, unterdrückte er die zittrigen Fragen seines Körpers. Jetzt erst bemerkte er die Abwesenheit seiner Frau und der anderen Mitglieder seines Politbüros, die vorher mit ihm auf dem Balkon standen. Mit neuer Kraft schaffte er sich wieder aufzurichten und hielt sich fest am unteren Rahmen einer Fensterluke, schaute nach draußen. Er sah nur den flüchtigen Schatten eines Riesenvogels.

Ein Hubschrauber überflog den Hochspannungsmast und landete unbemerkt auf dem Betondach des Parteigebäudes; das grelle Massengetöse saugte die Propeller-geräusche auf.

Der Pilot sah ihn am Fenster, winkte ihm kurz. Er fasste wieder Hoffnung. Sein flatterndes Herz brannte immer noch vor Ehrgeiz, das Land in die paradiesische

Ära des Kommunismus zu führen.

In drei Tagen ist Weihnachten, erinnerte er sich, sie werden uns schon nichts Böses antun. Sie können nicht in die Kirche gehen und die Geburt Jesu feiern, und gleichzeitig mich und meine Frau entsorgen, das passt doch nicht zusammen. Ich werde Beweise gegen diesen zusammen gewürfelten Haufen erbringen. Ich bestehe auf meiner Anhörung vor der Grossen Nationalversammlung! Erst flüsterte er wie ein Souffleur diesen ehrwürdigen Satz, so leise, dass die Mäusepaare, die sich in ihrer Papiersiedlung satt fraßen, die Ohren spitzten, dann wiederholte er den Satz, sehr laut und  entschlossen.

Sein mit Luchsfell gefutterter Mantel erwärmte ihn wieder.  Ihm war nicht mehr schwindlig.

Als sich die Sonne im eisigen Nebel verbarg, holte ihn der Pilot mühelos raus und brachte ihn zum Helikopter. Drin saß schon, mit geschlossenen Augen und leicht blutender Unterlippe, seine Frau. Den letzten beißen die Hunde, sagte sie ihm ein wenig orakelhaft und schwieg.

Er zuckte, bildete mit dem Mund ein rundes O oder Oh als Antwort, die aber in der Kehle blieb, und ging mehrere Schritte zurück. Als wollte er sagen: Ich fliege nicht mit, ich kehre auf  meinen Dachboden zurück und bereite meine Verteidigung vor. Wir müssen los, unterbrach der Pilot diese überraschende Pantomime, sonst löchern uns die Maschinenpistolen, bevor wir die Grenze erreichen.

Hilf ihr zu fliehen, rette sie!, sagte er noch und verschwand.  Er, der nie weinte, brachte in Tränen aus, die seine lederne Netzhaut befeuchteten und ihn dazu brachte, den fantasielosen Raum, in der er sich nun auffielt, in weichen Umrissen

zu sehen, ihn mit Bildern seines Geistes zu füllen. Er weinte, weil er nun frei war.

Der Zweifel griff ihn von neuem an. Ob er doch Schuld auf sich geladen hat?

Tappte das Volk wie Fledermäuse im Dunkeln? Ließ er sich wirklich Kinderblut spritzen, um ewig jung zu bleiben? Opferte er so viele Menschenleben, nur um den größten Palast der Welt zu errichten?

Beim Bauen der Pyramiden starben viel mehr Sklaven, deshalb wurde aber kein Pharao umgebracht, versuchte er das eindringliche Schuldgefühl zu entschärfen.

Unwillkürlich dachte er wieder an „seine“ Oper. Aber diesmal tat ihm die Erinnerung an die überschwängliche Chormusik nicht gut. Er sah Sklaven in Scharen zu ihm kommen, wie sie auf ihm mit Füssen herumstampften und an einen Pfeiler seines Mammutpalastes fesselten. Sie sangen dabei und diese anschwellende Melodie ballte sich in seinem Kopf, pochte gegen die müden Schläfen und brach in ein wildes Fortissimo aus. Er könnte Nabucco nicht mehr ertragen. Ihr sollt aufhören!, schrie er entsetzt und lief aus dem Dachraum. Mit Trippelschritten, auf das Treppengeländer gestützt, lief er die endlosen Stufen hinab. Blieb mehrmals stehen, um Luft zu holen und wunderte sich, niemandem zu begegnen. Auf einmal war es still und dunkel im Treppenhaus, der bläuliche Lichtstrahl kam von einer Straßenreklame. Als er die letzte Stufe erreichte, kam er an ein Tor, das er sofort erkannte: Da beginnt sein Bunker, sein labyrinthischer Bunker.

Sein Atem beruhigte sich. Er wünschte, die privaten Schutzräume, die er bisher noch nie sah, zu betreten. Er hatte nun Zeit, er schmunzelte über diesen Gedanken wie über die Farce eines Zirkusclowns. Denn die anderen glaubten, er habe im Hubschrauber fliehen wollen.

Er las jedes Türschild, öffnete jede Tür. In den Raum, der „Welt“ hieß, trat er schließlich ein. Dort standen über einer Felsenschlucht alle Staats- und Parteichefs, die ihm bei seinen vielen Besuchen die höchste Ehrenbezeigung erwiesen. Er bat sie: Stehen Sie mir bei! Sie sind meine Zeugen vor der Geschichte! Er merkte noch nicht, dass er aus diesen Zeiten ausgetreten war. Um ihr seltsames Schweigen zu brechen, fasste er ihre Hände, aber sie fühlten sich hart und leblos an. Sie sind nur aus Wachs!, rief er erschüttert.

Unter der Last dieses Erlebnisses betrat er den nächsten Raum. „H-e-i-m-a-t“,  buchstabierte er den Namen, als wollte er die neue Desillusionierung, die er ahnte, um einige Augenblicke hinauszögern.

Sein feuchter Blick fiel auf die Veranda des Elternhauses. Unverändert, mit den bunten Geranien und der Kapuzinerkresse. Vater scheint seine ewigen Zoten einem Saufkumpanen zu erzählen, denn die beiden lachen so schelmisch! Und dieses nostalgische Liebeslied am  Hackbrett, grinste er und drehte sich um, auch um den billig gebrannten Pflaumenschnaps nicht riechen zu müssen. Ach, Mama, zu dir will ich! Du wirst mich schützen, nicht wahr, so wie du es immer getan hast!, rief er zu der kleinen dicken Bäuerin, die auf ihrem Stuhl saß und Wolle für ein Hemd spann. Er hoffte, sie würde ihn unter dem weiten Flachsrock verstecken, wie an den Tagen, an denen es blitzte und donnerte.

Als er ganz nah an sie heran trat und ihren Kopf streichelte, stürzte sie vom Stuhl und ihre Spindel rollte ins Gras.

O Gott, erschrak der Ungläubige, ist meine Mutter nur eine Plastikpuppe? Und das Haus, die Geranien? Was ist noch wahr? Wessen Sohn bin ich? Aus seinem Mund sprach der dunkelste Zweifel.

Das wird der letzte Raum, in den ich gehe, entschloss er sich vor der Tür mit dem Schild „Kunst“.

Der letzte Raum war ein Archipel von Schreibtischinseln, Staffeleien, Notenständern, wackligen Büchertürmen und ausgeleierten Saiteninstrumenten. Das erste, das er zur Hand nahm, war ein Gedichtband. Er schlug ihn auf und las einige Titel.

Wo steckt ihr, Dichter? Und Maler? Und Liedermacher? Ihr, Höflinge, die mich zum Titan der Titanen und Sohn der Sonne machten! Auch ihr verleugnet mich?, brüllte er erzürnt und schlug mit der schweren Spitze seines Winterschuhs auf Farbentöpfe, Harfen und Bücher, auf alles was ihn verraten haben konnte.

Dann riss er aus dem Gedichtband Seite für Seite heraus und warf sie in die Luft. Papiervögel, röchelte er, weiter nichts.

Er wollte zur Tür, stolperte aber über ein Gemälde, das bisher verschont blieb.

Sein Fuß bereitete sich in der Luft für einen neuen Angriff vor. Dann war es doch Neugier, die ihn trieb, das Bild vom Boden aufzuheben und es anzuschauen.

Das bin ich!, jauchzte er. Es folgten nur kurzatmige Sätze, Stichworte für jedes Detail: Auf dem Floß. Ohne Gefolgsleute. Nur ich und das Meer. Das Schwarze. Ich rudere meerwärts, breche den hohen Wellengang, fahre zu anderen Ufern.

Er fing an sogar den Refrain eines bekannten Seemannsliedes zu summen und hätte vielleicht auch lauter gesungen, hätte eine wirbelnde Riesenhand ihn nicht plötzlich gepackt und ihm das Gemälde entrissen.

Das Bild ist doch meins! Ich bin doch im Bild, wehrte sich verzweifelt der plötzlich ohne Träume gebliebene Navigator.

In diesem Bild bist du noch nicht, widersprach ihm eine verhallende Stimme. Aber ich kann dich hinbringen, wenn du willst. Dort ist die Sonne noch nicht entschwunden. Denkst du immer noch an die Verschwörung?

Er konnte niemanden sehen, weder am Boden noch an der Decke und in den Winkeln.

Die Stimme sprach wieder: Bin kein Spuk. Und ich locke dich nirgendwohin. Nenne mich Wind. Weihnachtswind.

Er glaubte dem Wind und doch blieb in seiner Antwort ein grübelnder Unterton vernehmbar. Ja, er wollte zum Floß, auf hoher See.

Wird mich mein Volk noch anschauen und bewundern?, wollte er vorher noch wissen. Und soll ich den Mantel ausziehen? Wo wird meine Seele im Bild sich zum Schlafen hinlegen? Und wie erfahr ich noch rechtzeitig, wann Weihnachten ist? Wie komm ich ans Ziel ohne Kompass und Seekarte?

Der Wind hörte die Hilflosigkeit des entthronten Diktators, hauchte ihm ins Ohr: Vertraue wie damals die Inkas dem Strom und den Sternen…

Am nächsten Morgen fand ihn das Erschießungskommando in der karg möblierten „Kunstkammer“, wo das einzige Musikinstrument, eine Kindertrompete, zwischen dem Luchspelz und seinen Biographien im Eiswasser schwamm. Er selbst lag auf dem Rücken, das Floßbild fest an die Brust gedrückt. Die Fallschirmjäger drehten den Wasserhahn zu und stellten den Ventilator an der Zimmerdecke ab. Sie nahmen die fünfundzwanzig Patronen aus ihren Maschinengewehren heraus und legten sie ihm auf die Stirn wie auf ein Grab.

Frohe Weihnachten, sagte der Jüngste von ihnen.

 

 

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